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2022-10-24


Sonnenuhren Teil 5

Die Hirtensonnenuhr von Hermann dem Lahmen                    Kommentare sind willkommen.


In Bild 1 sehen wir ein Modell einer Hirtensonnenuhr, deren Ursprung unsicher ist, aber deren Entwurf oder Beschreibung in einigen historischen Werken dem Reichenauer Mönch Hermann der Lahme zugeschrieben wird, u.a. in seiner Biographie im MacTutor History of Mathematics Archive. Ein mathematisches Problem auf dieser Website (Problem # 26) widmete sich ebenfalls Hermanns Interessen und Leistungen im geo-astronomischen Bereich.

Die Hirtensonnenuhr weist ein grundlegend verschiedenes Bauprinzip gegenüber den in den vorigen Blogbeiträgen vorgestellten Sonnenuhren auf und erfordert deshalb auch eine eigene mathematische Beschreibung. Die Uhr besteht aus einem Zylinder, der am oberen Rand einen drehbaren Kopf mit einem waagerechten Zeiger hat. Dessen senkrechter Schatten muss über dem aktuellen Datum stehen. Der Endpunkt des Schattens zeigt die Uhrzeit an.

Sonnenuhr_total Sonnenuhr_Schatten Sonnenuhr_Monate

Bild 1  Standort auf \(~52°\) nördlicher Breite, \(16.~\text{Mai},~08:30~\) oder \(~15:30~\text{Uhr}\)

Was ist ungewöhnlich an dieser Sonnenuhr? Der waagerechte Zeiger sieht zwar den Zeigern der Sonnenuhren ähnlich, wie man an sie an zahlreichen Häuserwänden sieht. Aber er ist nicht zum Pol ausgerichtet, steht also nicht parallel zur Erdachse; außerdem ist er nicht starr befestigt. Die Stundenlinien sind hier keine aufgefächerten Geradenstücke (so wie bei den bisher beschriebenen Sonnenuhren), sondern Kurven.

Ablesung der Uhrzeit: Die Schattenlänge zu einer bestimmten Uhrzeit variiert mit dem Datum, deshalb wird der Kopf der Uhr mit dem Zeiger auf das aktuelle Datum gedreht; die Anzeige dafür steht am unteren Rand des Zylinders. Die Uhr wird dann so in die Sonne gedreht, dass der Zeigerschatten senkrecht nach unten zeigt. Die Kurven auf der Sonnenuhr stehen jeweils für eine bestimmte Uhrzeit, die am Endpunkt des Schattens abgelesen wird. Diese Handhabung lässt sich mit Bild 1 nachvollziehen.

Vorteile der Hirtensonnenuhr: Die Uhr ist klein und leicht transportierbar. Sie ist sehr leicht handhabbar, insbesondere ist die Ermittlung der Nordrichtung nicht erforderlich.

Nachteile der Hirtensonnenuhr: Die Kurven auf der Uhr sind für einen konkreten Breitengrad \(~\phi~\) berechnet (\(52°~\text{N}~\) in Bild 1), und nur dort kann man sie einsetzen; außerdem muss das Datum bekannt sein  –  beides entfällt bei den aufwändiger konstruierten mobilen Sonnenuhren in Teil 1 und Teil 2. Ferner steht jede Stundenlinie (außer bei \(~12:00~\)) für zwei Zeitpunkte, nämlich für vormittags und nachmittags; dies macht die Ablesung um die Mittagszeit unsicherer.  –  Ein Problem bei der Verwendung in der freien Natur (für Hirten!) ist, dass der Untergrund eben sein muss.  –  Eine hohe Genauigkeit kann man nicht erwarten, da die Stunden- und Monatslinien nur eine grobe Ablesung ermöglichen. Dies ließe sich allerdings durch einen dickeren und höheren Zylinder mit mehr Linien verbessern.


Die Hirtensonnenuhr im Vergleich zu anderen Sonnenuhren

In den letzten vier Blogbeiträgen wurden verschiedene Beispiele von Sonnenuhren vorgestellt. Zusammen mit der Hirtensonnenuhr fallen sie im Wesentlichen in zwei Typen. Die äquatorialen Sonnenuhren und der Gnomon (Teil 1, Teil 2, Teil 4) verwenden die Himmelsrichtung der Sonne für die Ablesung der Uhrzeit; außerdem bieten sie die Möglichkeit, über die Schattenlänge auch das Datum abzulesen (Teil 2, Teil 4). Der zweite Typ wird hier durch die Aquitaine (Teil 3) und die Hirtensonnenuhr repräsentiert. Diese verwenden den Höhenwinkel der Sonne für die Ablesung der Uhrzeit. Der Vergleich der fünf Uhren ist in der folgenden Tabelle dargestellt.
    Uhrzeit Datum (über Deklination) Zeitgleichung Was muss bekannt sein?
Teil 1 äquatorial (Eigenbau) Richtung der Sonne Nordrichtung + Breite (variabel)
Teil 2 äquatorial + analemmatisch Richtung der Sonne Höhenwinkel der Sonne + Nordrichtung + Breite (variabel)
Teil 3 Aquitaine-Ringsonnenuhr Höhenwinkel der Sonne Datum + Breite (fest)
Teil 4 Gnomon Richtung der Sonne Höhenwinkel der Sonne Nordrichtung + Breite (fest)
Teil 5 Hirtensonnenuhr, zylindrisch Höhenwinkel der Sonne Datum + Breite (fest)


Wie Hermann vor 1000 Jahren die Linien für die Uhrzeit konstruiert hat, wissen wir nicht  –  es ist keine ganz leichte Aufgabe. Wir wollen im Folgenden diese Kurven mathematisch erzeugen. Bild 2 zeigt das Grundprinzip der Hirtensonnenuhr. Die fette senkrechte Linie liegt auf dem Zylindermantel in Richtung der Sonne. Der Schattenzeiger am oberen Zylinderrand steht waagerecht ab; seine Länge nehmen wir normiert zu \(~1~\) an. \(~h~\) ist der Höhenwinkel der Sonne über dem Horizont. Der Zeiger wirft einen Schatten der Länge \(~s~\) auf die senkrechte Mantellinie.

Prinzip der Hirtensonnenuhr

Bild 2  Prinzip der Hirtensonnenuhr

Berechnung der Schattenlinien auf der Sonnenuhr

\(h~\):  Höhenwinkel der Sonne über dem Horizont, siehe Bild 2
\(s~\):  Länge des Schattens auf der Sonnenuhr, siehe Bild 2
\(\phi~\):  Breitengrad des Beobachters
\(\delta~\):  Deklination der Sonne
\(t~\):  Tages-Nr. im Jahr
\(\tau~\):  Uhrzeit, im Text angegeben in Stunden und Minuten, in den Formeln in Grad  (\(~0° = 00:00~\text{Uhr},~~90° = 06:00~\text{Uhr}~\) usw.)

Wir setzen \(~y~\) als Abkürzung für \(~\text{sin}~h~\) in Bild 2.

\(\textbf{(1)}~~y=\text{sin}~h = -\text{cos}~\delta~\text{cos}~\tau~\text{cos}~\phi + \text{sin}~\delta~\text{sin}~\phi\)
      Die rechte Seite der Gleichung    findet man in der Geo-astronomischen Formelsammlung auf dieser Website als Formel (8).

\(\textbf{(2)}~~\delta = 0,4095~\text{sin}\left(0,016906~(t - 80,086)\right)\)        Näherungsformel, etwas ungenau zu Sommer- und Winteranfang; siehe Quelle [1]

In Bild 2 ist \(~s=tan~h~\). \[s = \text{tan}~h = \frac{\text{sin}~h}{\sqrt{1-\text{sin}^2~h}} = \frac{1}{\sqrt{\left(\text{sin}^{-2}~h\right)-1}}\] \[\textbf{(3)}~~s = \left(y^{-2}-1\right)^{-\frac{1}{2}}\] Damit ist \(~s~\) nach (1), (2) eine Funktion des Beobachter-Breitengrads \(~\phi~\),  des Datums \(~t~\) und der Uhrzeit \(~\tau~\). Ist die Deklination der Sonne bekannt (z.B. aus der Messung der Mittagshöhe oder aus einer Tabelle), kann man natürlich auf (2) verzichten.

Mit \(~s~\) zeichnet man die Schattenlinien auf der Sonnenuhr. \(~\phi~\) ist dabei fest; feste \(~\tau~\) werden im Stundenabstand gesetzt; also ist \(~s~\) für jede der Kurven auf der Sonnenuhr eine Funktion des Datums \(~t~\) bzw. der Deklination \(~\delta~\).

Die Berechnungen für die Stundenlinien auf der Hirtensonnenuhr unterliegen den gleichen theoretischen Beschränkungen wie in der Geo-astronomischen Formelsammlung (siehe dort die Hinweise zur "Idealisierung" am Ende der Ausführungen zum geozentrischen Modell hinter (1) sowie Beispiel 7). Insbesondere gilt das für die noch folgenden Beispiele; die dort angegebene Genauigkeit ist für praktische Belange ohne Bedeutung. Für Hermanns Sonnenuhr spielt das schon deshalb keine Rolle, weil die Monats- und Stundeneinteilungen keine hohe Genauigkeit zulassen.

Mit \(~s~\) aus (3) kann man nun die Kurven für einzelne Uhrzeiten zeichnen, die dann auf die Zylinderoberfläche aufgebracht werden. In Bild 3 wird das beispielhaft für die Tropen, die gemäßigten Breiten (2x) und für die Polarregion gezeigt, jeweils für die Nordhalbkugel. Die linke untere Skizze für \(~52°\) entspricht Bild 1.

Kurven

Bild 3  Uhrzeitkurven von Hirtensonnenuhren für verschiedene Breiten. Die jeweils unterste Kurve steht für \(~12~\text{Uhr mittags}~\).
Bild 3  Waagerechte Achse: Tage.  –  Senkrechte Achse: Skalen für die Schattenlängen sind unterschiedlich gewählt.


Die Formeln für die Gnomon-Sonnenuhr in Teil 4, Kasten (VI) können wir verwenden, um alle Uhrzeitkurven anzugeben, die auf die Hirtensonnenuhr gezeichnet werden können:

\(\textbf{(4)}~~\tau \in \left(~\text{arccos}~(\text{tan}(23,44°)~\text{tan}~\phi),~360° - (~\text{arccos}~(\text{tan}(23,44°)~\text{tan}~\phi)\right)\)   in den nördlichen gemäßigten Breiten

Welche Uhrzeitkurven könnte man mit (4) in Bild 3 zeichnen?

\(~~~~13°:~~05:37~~\text{bis}~~18:23\)

\(~~~~31°:~~05:00~~\text{bis}~~19:00\)

\(~~~~52°:~~03:45~~\text{bis}~~20:15\)

\(~~~~83°:~~\text{alle}\)


Zu Bild 3, gemäßigte Breiten (\(31°\) und \(~52°\)): Die unteren Kurven gelten ganzjährig, stehen also für Uhrzeiten, zu denen immer die Sonne über dem Horizont steht. Weiter oben sieht man die Uhrzeit-Kurven, die nur zeitweise gelten, symmetrisch zentriert um den Sommeranfang. Dieses Phänomen tauchte ebenfalls schon bei der Gnomon-Sonnenuhr in Teil 4 dieser Reihe auf. Die "endlichen \(~\tau\)–Linien Nordhalbkugel" im Kasten (VIII) von Teil 4 korrespondieren mit den ganzjährigen Uhrzeit-Linien der Hirtensonnenuhr; sie hängen nur vom Breitengrad \(~\phi~\) ab: \[\textbf{(5)}~~\tau \in \left(~\text{arccos}~(\text{tan}(-23,44°)~\text{tan}~\phi),~360° - (~\text{arccos}~(\text{tan}(-23,44°)~\text{tan}~\phi)\right)\] Beispiel: Die in Bild 1 abgebildete Sonnenuhr wurde für \(~\phi = 52°\) gefertigt. Somit laufen die Uhrzeitlinien für \(~\tau \in (~08:15~\text{Uhr},~15:45~\text{Uhr})~\) vom linken bis zum rechten Rand, in Bild 3 also von \(~09:00~\text{Uhr}~\) bis \(~15:00~\text{Uhr}~\);  das sind die vier untersten Kurven.

Im Kasten (X) von Teil 4 stehen die Deklinationen der Sonne, zu denen sie, abhängig von Breitengrad \(~\phi~\) und Uhrzeit \(~\tau~\),  nicht ganzjährig sichtbar ist:

\(\textbf{(6)}~~\delta \in (\text{arctan}~(\text{cos}~\tau~\text{cot}~\phi),~23,44°]~\) für \(~\text{cos}~\tau~\text{cot}~\phi \ge \text{tan}~(-23,44°)\)

Für die Hirtensonnenuhr übersetzen wir dies von "Deklination" in "Datum", indem wir (2) nach \(~t~\) auflösen (auch hier macht sich die Ungenauigkeit zu Sommer- und Winteranfang bemerkbar, die sich aber für die Stundenkurven auf der Uhr in Bild 1 nicht auswirkt):

Winteranfang bis Sommeranfang: \[\textbf{(7)}~~t = \text{mod}\left(80,086 + \frac{\text{arcsin}(\delta/0,4095)}{0,016906},~365,2422\right)\] Sommeranfang bis Winteranfang: \[\textbf{(8)}~~t = 265,913- \frac{\text{arcsin}(\delta/0,4095)}{0,016906}\] Beispiel: An welchen Tagen steht die Sonne auf dem \(~52.\) Breitengrad um \(~05:00~\text{Uhr}~\) über dem Horizont? In Bild 3 sehen wir das als zweitoberste Kurve:

\(\delta \gt 11,43°~~~\Longrightarrow~~~t~\in~[~111,~235~]\)


Zu Bild 3, Polarregion (\(83°\)): Hier gibt es keine Uhrzeitkurven, die ganzjährig gelten, denn in der Polarnacht steht die Sonne ganztägig unter dem Horizont. Die Formeln (6) - (8) wollen wir hier anwenden auf die unterste Kurve ("Mittagskurve" für \(~12:00~\text{Uhr}\)) und die oberste Kurve ("Mitternachtskurve" für \(~00:00~\text{Uhr}\)):

Beispiel:
Für \(~12:00~\text{Uhr}~\) ist \(~\delta \gt -7°~~~\Longrightarrow~~~t~\in~[~63,~283~]\)
Für \(~00:00~\text{Uhr}~\) ist \(~\delta \gt 7°~~~\Longrightarrow~~~t~\in~[~98,~248~]\)
Die Mittagssonne sieht man also ungefähr vom \(~4.~\text{März}~\) bis zum \(~10.~\text{Oktober}~\), die Mitternachtssonne ungefähr vom \(~8.~\text{April}~\) bis zum \(~5.~\text{September}~\).


Zu Bild 3, Tropen (\(13°\)): Wir sehen nur Uhrzeitkurven, die sich über das ganze Jahr erstrecken. Woran liegt das? Die oberste Kurve steht für \(~07:00~\) und \(~17:00~\) und erlaubt schon kaum noch eine Ablesung des (sehr kurzen) Zeigerschattens. Mit (5) erhalten wir \(~\tau \in (06:23,~17:37)\)  –  alle abgebildeten Kurven liegen also in diesem Intervall.

Die beiden untersten Kurven in der oberen linken Graphik von Bild 3 haben eine ganz andere Gestalt als die Kurven in den anderen Graphiken  –  die Verdellungen treten in den Tropen auch bei den oberen Kurven auf, sind aber in Bild 3 nur schwach erkennbar. Bild 4 zeigt diesen Effekt; wir wollen ihn analysieren:

Tropen

Bild 4  Uhrzeitkurven \(~11~\text{Uhr}~\) und \(~12~\text{Uhr}~\) für \(~\phi = 13°\)

Zu Bild 4 links, \(~11~\text{Uhr}~\):  Die beiden Minima liegen an den Daten, an denen \(~\delta = \phi~\) ist, denn dann steht die Sonne am höchsten und der Schatten ist am längsten. Mit (7) und (8) ergeben sich dafür ungefähr die Daten \(~25.~\text{April}~\) und \(~19.~\text{August}\). Zwischen diesen beiden Daten läuft die Deklination der Sonne erst bis zum Wendekreis (ihre Höhe nimmt also ab) und wieder zurück (Höhe nimmt zu).

Zu Bild 4 rechts, \(~12~\text{Uhr}~\):  Der Kurvenverlauf ist im Wesentlichen wie um \(~11~\text{Uhr}~\),  aber für \(~\delta = \phi~\) steht die Sonne im Zenit, d.h. der Schatten wird unendlich lang.


Wie sieht die Hermann'sche Sonnenuhr auf der Südhalbkugel aus? Die Formeln (1) - (3) gelten auch für negative \(~\phi~\) und werden unverändert übernommen. Die Formeln (4) - (6) erfordern lediglich andere Vorzeichen, siehe die Kästen (VI), (VIII) und (X) in Teil 4. Bild 5 zeigt mit \(~\phi = -52°\) das Gegenstück zur linken unteren Skizze in Bild 3; die Graphen in den beiden Skizzen sind gegeneinander um ca. ein halbes Jahr verschoben.

Suedhalbkugel

Bild 5


Die Sonnenuhr zeigt die wahre lokale Sonnenzeit an. Zur Ermittlung der bürgerlichen Zeit müssen noch folgende Korrekturen vorgenommen werden:

Umrechnung von Sonnenzeit auf bürgerliche Zeit
  • Korrektur der abgelesenen Zeit mit der Zeitgleichung zur Ermittlung der mittleren lokalen Sonnenzeit (→ Diagramm).

  • Längengradkorrektur (also muss die geographische Länge genau ermittelt werden; außerdem diejenige geographische Länge, die der bürgerlichen Zeit zu Grunde liegt, z.B. in Deutschland im Winter \(~15°~\text{Ost}~\) für \(~\text{MEZ}~\);  die Differenz macht in Ost-West-Richtung \(~4~\text{Minuten}~\) pro Längengrad aus).

  • Ggfs. eine Korrektur von einer Stunde, falls die Sommerzeit gilt.

  • Beispiel: Wir stellen die Hirtensonnenuhr aus Bild 1 bei \(~52°~\text{Nord}~\) und \(~6,5°~\text{Ost}~\) (Bauernhof im Osten der Niederlande) am \(~20.~\text{September}~\) auf. Die Zeitgleichung beträgt an diesem Datum \(~+7~'~\),  die Sonne geht also \(~7~\text{Minuten}~\) gegenüber der mittleren Zeit vor. Die Sonnenuhr zeige \(~9:30~\text{Uhr}~\) an:

    \(~~~~~9:30~\text{Uhr}~\) wahre lokale Sonnenzeit
    \(=~9:23~\text{Uhr}~\) mittlere lokale Sonnenzeit
    \(=~9:57~\text{Uhr}~\)\(~\text{MEZ}~\) (denn \(~\text{MEZ}~\) bezieht sich auf \(~15°~\text{Ost}~\);  die Differenz von \(~8,5°~\) entspricht \(~34~'~\))
    \(=~10:57~\text{Uhr}~\) Sommerzeit, also aktuelle bürgerliche Zeit

Wie könnte man eine analemmatische Hirtensonnenuhr mit Anzeige der bürgerlichen Zeit anfertigen?

Theoretisch: Kein Problem. Praktisch: Eher schwierig.

Die Längengradkorrektur ist problemlos. Man muss dafür nur die Uhrzeitkurven auf der Sonnenuhr anders beschriften. Befindet man sich z.B. auf \(~7,5°\) östlicher Länge und möchte die \(9\text{-Uhr-}\)Kurve zeichnen, so wählt man in (1) \(~\tau = 08:30~\).  Die unterste Kurve, die man zeichnen kann (Mittagskurve für \(~\tau = 12:00~\)) erhält dann die Beschriftung \(~12:30~\),  darüber würde die Kurve für \(~\tau = 11:30~\) und \(~\tau = 12:30~\) mit der Beschriftung \(~12:00~\) und \(~13:00~\) liegen.

Auch die Sommerzeit lässt sich bequem eintragen. In dem entsprechenden Tagesintervall werden die Beschriftungen um eine Stunde erhöht.

Für eine analemmatische Sonnenuhr (siehe Teil 2) bleibt noch die Zeitgleichung zu berücksichtigen, die wir in Abhängigkeit von \(~t~\) gemäß Quelle [1] wie \(~\tau~\) in Grad messen: \[z = (-0,171~\text{sin}~(0,0337~t + 0,465) - 0,1299~\text{sin}~(0,01787~t - 0,168))\cdot 15°\] In (1) nimmt man die folgenden Korrekturen vor:

\(\tau~~\rightarrow~~\tau + z~~\) vormittags
\(\tau~~\rightarrow~~\tau - z~~\) nachmittags

Hier setzen die praktischen Schwierigkeiten ein. Die ursprünglichen Stundenlinien werden jeweils durch zwei andere ersetzt, die zudem noch nah beisammenliegen und die Ablesung erschweren. Dazu schaue man sich die Bilder 6 und 7 an. Die schwarzen Kurven stammen von der ursprünglichen Sonnenuhr und sind identisch, da sie symmetrisch zu \(~12:00~\text{Uhr}~\) liegen. Ohne Berücksichtigung der Zeitgleichung würden diese Kurven einfach mit \(~09:00/15:30~\) außerhalb der Sommerzeit und \(~10:00/16:30~\) während der Sommerzeit beschriftet. Die grünen Kurven stehen für eine analemmatische Sonnenuhr; legte man die Bilder 6 und 7 übereinander, so lägen diese Kurven sehr nahe beieinander.

Analemma

Bild 6  Analemma vormittags

Analemma

Bild 7  Analemma nachmittags

Wenn man Hermanns Sonnenuhr genügend groß macht (etwa wie eine Litfaßsäule  –  das wäre eine schöne Idee), ist eine analemmatische Version möglich. Für die Uhrzeitkurven in Bild 3, die eng zusammenliegen, vor allem in den oberen Bereichen (kurze Schatten) und für die Polarregion, könnte man den Effekt der Zeitgleichung allerdings kaum erkennen. Beim Wechsel von vormittags zu nachmittags entlang der \(12\text{-Uhr-}\)Linie verhält es sich ebenso; die schwarzen und grünen Kurven liegen so nah beieinander, dass das Analemma ohne praktische Bedeutung ist. Das ist leicht erklärbar: Wenn die Sonne im Zenit steht, hat sie für einige Minuten vorher und nachher  –  auch in der Größenordnung der Zeitgleichung  –  in etwa den gleichen Höhenwinkel \(~h~\) in (1).

Fazit: Man kann leicht eine Hirtensonnenuhr mit Längengradkorrektur und Sommerzeit fertigen, aber eine analemmatische Variante würde einen großen Zylinder (für Hirten nicht zu bewegen) erfordern und auch dann nur für einen Teil der Uhrzeitkurven ablesbar sein.




Quelle für Deklination und Zeitgleichung in Abhängigkeit vom Datum:

[1] https://www.astronomie.info/zeitgleichung/



Kategorie: Geomathematik                    Kommentare sind willkommen.



Stand 2022-02-10


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