2021-12-19
Rhein-Kilometrierung Teil 6 Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5
Kilometrierung im Rheingau Kommentare sind willkommen.
In den ersten fünf Teilen dieser Beiträge zur Kilometrierung des Rheins wurden die Besonderheiten auf dem Teilstück zwischen km 502 und km 530 bereits an mehreren Stellen behandelt. Hier soll nun eine Übersicht gegeben werden, die weitere Details enthält, aber auch einige Fragen offen lassen muss.
Wie ist es mir ergangen, als ich in den Rheingau kam und begann, mich für die Kilometrierung des Rheins zu interessieren? Zuerst wurde ich auf den berühmten "kurzen km" in Bingerbrück aufmerksam. Dort folgt auf km 529,5 in 25 m Abstand km 530,0 , siehe Bild 1.
Bild 1 "Kurzer Kilometer" in Bingerbrück
Die Erklärung ist schnell zur Hand und an vielen Stellen nachzulesen: Am 1.4.1939 wurde eine durchgehende Rhein-Kilometrierung von Konstanz bis zur Nordsee vorgenommen, die die Kilometrierungen der früheren Staaten mit ihren jeweils eigenen Nullpunkten ersetzte. Dabei sollten aber die vorhandenen Vermessungspunkte so weit wie möglich übernommen werden (siehe Bild 2).
Bild 2 Preußische km-Marke 78,0 , steht unmittelbar bei der km-Tafel 580 in Braubach
Die km-Tafeln wurden 1939 mit den neuen Zahlen übermalt, also mit den Entfernungen im Flussverlauf ab Konstanz. Ein Problem ergab sich an den links- und rechtsrheinischen Nord- und Südgrenzen des Großherzogtums Hessen: Hier passten an drei der vier Grenzen die Vermessungspunkte der benachbarten Staaten nicht harmonisch zusammen.
Das war insbesondere an der im Flussverlauf untersten dieser Grenzen, in der Mündung der Nahe zwischen Bingen und Bingerbrück der Fall: Hier stießen zur Zeit der Rheinvermessung zwischen 1883 und 1910 linksrheinisch das Großherzogtum Hessen und die preußische Rheinprovinz aneinander; auf hessischer Seite bei km 362,22 (bezogen auf den Nullpunkt in Basel), auf preußischer Seite bei km 27,695 (Nullpunkt nahe der rechtsrheinischen hessisch-preußischen Grenze zwischen Amöneburg und Biebrich). Die letzte hessische km-Tafel 362 in Bingen wurde mit 529 übermalt, die erste linksrheinische preußische km-Tafel 28 mit 530 . Zwischen den beiden liegen also nur 525 m . Gegenüber der Nahemündung gab es am rechten Ufer bis 1939 keinen "kurzen km", sondern eine durchgehende preußische Kilometrierung – der Längenunterschied in den hessischen und preußischen Vermessungen auf lediglich ca. 28 km Flusslänge mag zunächst erstaunen; wir werden darauf zurückkommen.
Meine zweite "Entdeckung" im Rheingau war überraschender als der "kurze km". Sie betrifft den Nullpunkt der preußischen Kilometrierung. Heute steht die km-Tafel 530 rechtsrheinisch unterhalb von Rüdesheim gegenüber der entsprechenden linksrheinischen Tafel; beide trugen bis 1939 die Zahl 28 . Der Gedanke wäre also naheliegend, dass der Nullpunkt wegen des heutigen "kurzen km" bei km 501,525 liegt. Aber das stimmt nun überhaupt nicht: Die rechtsrheinische Grenze zwischen Preußen und Hessen (Biebrich/Mainz-Amöneburg) liegt bei km 501,9 . Diese Differenz wird sogar noch größer, wenn man den Angaben in der Rhein-Literatur erstmal misstraut und selbst vor Ort recherchiert. Preußen hat nämlich den Nullpunkt für seine Kilometrierung keineswegs genau auf die Landesgrenze gesetzt (wie oft zu lesen), sondern ca. beim heutigen vollen km 502 , also einen Kilometer unterhalb des letzten rechtsrheinischen hessischen km 334 (heute km 501) – besser passen konnte es ja wohl eigentlich nicht. Woher weiß man von diesem Nullpunkt? Glücklicherweise ist die erste preußische Hektometermarke noch erhalten, also km 0,1 ; man findet sie beim heutigen km 502,108 ; siehe Bild 3 und Bild 4. Somit liegen zwischen den preußischen km 0 und 28 nach heutiger Kilometrierung (und auch nach der alten hessischen gegenüber) nur 27,525 km . Preußen hat also seine Vermessungspunkte enger gesetzt als Hessen.
Bild 3 Preußische Hektometermarken im Rheingau
Bild 3 Preußischer km 0,1 beim heutigen km 502,108 in Biebrich
Bild 3 Preußischer km 3,3 beim heutigen km 505,17 am Schiersteiner Hafen
Bild 3 Preußischer km 9,5 beim heutigen km 511,178 in Eltville
Bild 4 Vergleich der Kilometrierungen vor und nach 1939
Diese Diskrepanz lässt sich allenfalls teilweise aufklären. Ein Blick in die Geschichte der Rheinvermessung zeigt, dass die rechte Rheinseite im Rheingau zwischen 1866 und 1939, also zu preußischer Zeit, (mindestens) drei Mal vermessen wurde, mit jeweils verschiedenen Ergebnissen. Dies betrifft das Rheingauer Ufer von Biebrich bis gegenüber der Nahemündung; auf dieser Strecke lag die Grenze zwischen Preußen und Rheinhessen etwa in der Flussmitte.
- Erste Vermessung: Myriametersteine, gesetzt ab 1870, alle 10 km , Nullpunkt Basel (siehe Teil 5 = Blog # 12)
- Bei km 507 : Stein 34 , rechts Walluf (nicht auffindbar), links Budenheim.
- Bei km 517 : Stein 35 , rechts Oestrich, links Sandaue.
- Bei km 527 : Stein 36 , rechts Rüdesheim, links Bingen (wurde entfernt).
- Diese Steine tragen Entfernungsangaben zu den Landesgrenzen; rechtsrheinisch 5,227 km , 15,227 km , 25,227 km flussaufwärts bis zur Biebricher Grenze. Also hat Preußen für die Myriametersteine einen anderen Nullpunkt als bei der zweiten Vermessung (s.u.) gewählt. Dieser liegt 127 m oberhalb der Landesgrenze. Dies könnte einen plausiblen Grund haben: Die alte Landesgrenze (beim heutigen km 501,9) bezieht sich auf das rechte Ufer; aber auch die Rettbergsaue im Rhein gehörte zu Preußen, die etwas weiter flussaufwärts endet – auf alten Karten sieht man die Landesgrenze in einigem Abstand um die Aue gelegt.
- Zweite Vermessung: Setzung der landesspezifischen Vermessungsmarken ab 1886 (siehe Teil 2 = Blog # 7 und Teil 3 = Blog # 8)
- Der wesentliche Unterschied zur ersten Vermessung – und ein Rückschritt – war, dass kein einheitlicher Nullpunkt gesetzt wurde, sondern die einzelnen Staaten eigene Nullpunkte einführten.
- Als ein Nachteil dieser Vermessung stellte sich heraus, dass sich die Marken und Tafeln zwischen den heutigen km 502 und 530 nicht gegenüber standen. Dort wurden in Preußen 28 km gemessen und in Hessen 27,525 km , also standen in Preußen die Hektometermarken dichter – mit einer Abweichung von ca. 1,7% (siehe Bild 5 unten).
- Während im Großherzogtum Hessen die 10-km-Abstände der Myriametersteine mit der zweiten Vermessung harmonierten, war das in Preußen erst ab km 28 (heute km 530) der Fall; nur oberhalb des km 28 wurde diese Übereinstimmung verletzt. Dies ist gut erkennbar beim Rüdesheimer Myriameterstein, der am preußischen km 25,638 steht. Das erschließt sich aus dem Standort des km-Steins 25,5 (dies ist allerdings mit etwas Vorsicht zu behandeln: solche Steine können im Lauf der Jahre etwas versetzt worden sein). Die Diskrepanz zu 22,227 zeigt wieder, dass die preußische Vermessung "enger" lag als bei der Setzung der Myriametersteine, die mit der hessischen Vermessung gegenüber übereinstimmte (siehe Bild 5).
Bild 5 Standorte der Myriametersteine
Bild 5 innen: Beschriftungen auf den Myriametersteinen in km umgerechnet
Bild 5 mittig/außen: km-Angaben gemäß der 2. und 3. Vermessung
- Wie lässt sich nun dieses etwas eigensinnige Vorgehen bei der preußischen Vermessung im Rheingau erklären? Ein möglicher Grund – mit einer gewissen Plausibilität – lässt sich nennen: Die Vermessung könnte entlang des Ufers und nicht (wie sonst üblich) in der Strommitte vorgenommen worden sein. Dies müsste sich anhand alter Akten überprüfen lassen. Allerdings ist diese These nach Kartenstudium nicht so recht nachzuvollziehen.
- Dritte Vermessung: Durchgehende Kilometrierung des Rheins 1939 (siehe Teil 2 = Blog # 7)
- Alle Vermessungsmarken der Einzelstaaten wurden übernommen und nur die km-Tafeln übermalt – mit zwei Ausnahmen: Pfalz/Baden und Rheinhessen/Rheingau hatten km-Tafeln, die einander nicht gegenüber standen. Also gab es in der Pfalz und im Rheingau Neuvermessungen mit Anpassungen an die gegenüberliegenden Ufer.
- Die Entscheidung bzgl. Rheinhessen/Rheingau fiel zugunsten des linken Ufers aus. Alle preußischen Markierungen von km 0 bis km 28 wurden ungültig, neue Markierungen wurden gesetzt, und zwar exakt gegenüber den schon bestehenden rheinhessischen. So kann man also heute Zeugnisse dreier Vermessungen am Rheinufer von Biebrich bis Rüdesheim finden (siehe Bild 7 in Teil 3 = Blog # 8).
- Diese Neuvermessung behielt zwangsläufig den "kurzen km" an der Landesgrenze bei Bingen und "vererbte" ihn auf die rechte Rheinseite.
- Hätte man es auch anders machen können? Sicherlich: Hätte man die linke Rheinseite der rechten angepasst, gäbe es keinen "kurzen km", denn an der Grenze Amöneburg/Biebrich passten die Vermessungspunkte ja exakt zusammen. Das wäre ein Vorteil gewesen. Warum hat man es nicht so gemacht? Vermutlich hat man festgestellt, dass bei der zweiten Vermessung (s.o.) die linksrheinische Messung stimmiger war. Außerdem wäre die einzige Flussstrecke entstanden, auf der der Abstand der Myriametersteine nicht mit der neuen Kilometrierung harmoniert hätte (siehe Bild 5 oben).
Zusammenfassung
Bald nachdem die Myriametersteine entlang der deutschen Rheinstrecke – etwa ab 1870 in vorbildlicher Abstimmung der beteiligten Staaten – beidseitig im Abstand von jeweils 10 km aufgestellt worden waren, wurde eine Neuvermessung vorgenommen, die u.a. wegen unterschiedlicher Nullpunktsetzungen verschiedene Kilometrierungen in den Einzelstaaten zur Folge hatte. Die dabei gesetzten Messpunkte (Bodenmarken und Sichttafeln) sind bis heute gültig und haben 1939 lediglich neue km-Zahlen für die Entfernung ab Konstanz erhalten. Die einzigen Ausnahmen dafür sind die Pfalz und der Rheingau.
Hessen und Preußen haben bei dieser Neuvermessung, die etwa zwischen 1883 und 1910 durchgeführt wurde, nichts Wesentliches gegenüber der Vermessung für die Myriametersteine geändert – wiederum mit Ausnahme des Rheingaus. Das erkennt man daran, dass die Myriametersteine ab der früheren hessischen Südgrenze bis zu den Niederlanden auch gemäß der heutigen Kilometrierung im Abstand von 10 km stehen: Stein 28 steht bei km 447 , Stein 69 stand bei km 857,475 ; die überzähligen 475 m sind begründet durch den "kurzen km" bei Bingerbrück.
Erstaunlicherweise ist Preußen nur auf dem kurzen Stück zwischen der rechtsrheinischen Landesgrenze zum Großherzogtum Hessen beim heutigen km 502 (preußischer km 0) und der linksrheinischen Grenze bei km 530 (preußischer km 28) von der Orientierung an den Myriametersteinen abgewichen. Dies zeigt sich an den beiden Steinen, die an diesen Bereich angrenzen: Stein 33 steht bei km 497 , aber Stein 37 bei km 537,475 (preußischer km 35,475 , siehe Teil 5 = Blog # 12). – Dabei waren eigentlich durch den perfekten 1-km-Abstand zwischen dem hessischen km 334 und dem preußischen km 0 die besten Voraussetzungen gegeben, einen kurzen km zu vermeiden. Preußen hat aber im Rheingau seine Hektometermarken dichter platziert als Hessen auf der gegenüberliegenden Rheinseite. 1939 wurden deshalb alle Vermessungsmarken von Biebrich bis Rüdesheim (preußische km 0 bis 28) ungültig; es erfolgte eine Neuvermessung, die sich am linken Rheinufer orientierte und einen "kurzen km" erforderlich machte, damit ab dort flussabwärts die preußischen Vermessungspunkte und Sichttafeln weiter verwendet werden konnten.
Stand 2021-09-19
Kategorie: Geomathematik Kommentare sind willkommen.
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