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2021-02-18


Rhein-Kilometrierung    Teil 3                    Kommentare sind willkommen.


Im dritten Teil der Blog-Beiträge zur Rhein-Kilometrierung geht es um den ehemalig preußischen Abschnitt des Rheins sowie um die früheste durchgehende Sichtzeichenmarkierung am deutschen Teil des Rheins, die Myriametersteine, von denen die Hälfte auf preußischem Gebiet aufgestellt wurden  -  deutlich mehr als in jedem anderen beteiligten Land.

In Teil 2 wurde schon dargestellt, dass die preußische Kilometrierung rechtsrheinisch von  km 0  (heute ca.  km 502) bis  km 355,67  (heute  km 857,67) und linksrheinisch von  km 27,695  (Nahemündung, heute  km 529,22) bis  km 363,52  (heute  km 865,52) verlief. Rechnet man die Längen der Stromabschnitte nach, so ist auf der linken Seite erwartungsgemäß die heutige Differenz der Messwerte (336,295 km) um  475 m  größer als die (korrekte) preußische Differenz (335,82 km)  -  dies liegt am 1939 eingerichteten "kurzen Kilometer" bei Bingerbrück zwischen  km 529,5  und  km 530,0  (Bild 5 in Teil 2). Aber auf der rechten Seite unterscheiden sich diese Differenzen nicht  -  und dies macht den Rheingau zu einer interessanten Region, was die Geschichte der Rheinvermessungen angeht. Wo sind die fehlenden  475 m ? Darauf gehen wir weiter unten ein.

Zeugnisse für die preußische Vermessung des Rheins sind die raren noch erhaltenen Hektometermarken aus Metall auf dem Leinpfad (Bild 1) und die Myriametersteine (Bild 2):

658  658,8

Bild 1   Rechtsrheinische preußische Hektometermarken  km 156  und  km 156,8  an den heutigen Tafeln  km 658  und  km 658,8  nahe der Siegmündung


527,03_links  527,03_rechts

Bild 2   36. Myriameterstein bei  km 527,03  in Rüdesheim; die linke Ansicht gibt die Entfernung zur preußischen Landesgrenze stromaufwärts nach Hessen und die rechte Ansicht die Entfernung zur Landesgrenze stromabwärts nach den Niederlanden an.


Die Entfernungsangaben auf den Hektometermarken und den Myriametersteinen passen in Baden (und damit am gegenüberliegenden französischen und pfälzischen Ufer) und im Rheingau nicht zusammen. Dies liegt daran, dass sie aus verschiedenen Vermessungen stammen. Die Myriametersteine wurden ab 1874 aufgestellt; einige Jahre später wurde eine neue Gesamtvermessung des Rheins vorgenommen, die erst am Anfang des 20. Jahrhunderts abgeschlossen wurde und die Grundlage für die bis heute gültigen Vermessungspunkte war.

Die preußische Zählung begann mit  km 0  nahe der rechtsrheinischen Landesgrenze zu Hessen zwischen Amöneburg und Biebrich (allerdings nicht exakt auf der Grenze: die heute noch erhaltene erste preußische Hektometermarke  0,1  steht beim heutigen  km 502,108). Gegenüber dieser Grenze stand der hessische Hektometerstein  334,9  (siehe Teil 2). Die ersten  28  Rhein-km nach preußischer Messung machten 1939 in dreifacher Hinsicht Schwierigkeiten:

-  Da sich die links- und rechtsrheinischen km-Tafeln nicht gegenüberstanden, musste eine Seite ihre Tafeln aufgeben.

-  Zwischen dem letzten hessischen  km 362  und dem ersten linksrheinischen preußischen  km 28  lagen nur  525 m .  Da sowohl Hessen als auch Preußen keine vollständige Neuvermessung in Kauf nehmen wollten, musste ein "kurzer Kilometer" eingerichtet werden.

-  Der preußische  km 0  lag nach heutiger Kilometrierung bei ca. km 502  und der preußische  km 28  beim heutigen  km 530 .  Zwischen  km 502  und  km 530  liegen wegen des "kurzen Kilometers"  27,525 km .  Daraus folgt, dass die preußische Messung eine um ca. 475 m  längere Rheinstrecke gegenüber der hessischen Messung ergab.

Dazu schaue man sich die obere Graphik in Bild 3 an. Bis 1939 gab es die hessischen Strom-km (rechtsrheinisch bis  km 334,9 ,  linksrheinisch bis  km 362,1) und die preußischen Strom-km (rechtsrheinisch ab  km 0 ,  linksrheinisch ab  km 27,695).

Rheingau

Bild 3   Neueinrichtung der Hektometertafeln am Ufer des Rheingaus und des gegenüber liegenden Rheinhessens ab April 1939


Wie wurde bei der Vereinheitlichung 1939 mit den oben geschilderten Problemen umgegangen? Bild 3 zeigt uns das: Zunächst wurde die preußische Kilometrierung bis zum  km 28  aufgegeben und die linksrheinische Kilometrierung übernommen, so dass sich die Hektometerpunkte gegenüberlagen. Außerdem wurde, wie schon erwähnt, ein "kurzer Kilometer" eingerichtet: Zwischen  km 529,5  (preußisch  27,975) und  530,0  (preußisch  28,0) liegen nur  25 m  (Bild 6 in Teil 1).

Die Differenz zwischen der hessischen (und damit heutigen) und der preußischen Vermessung zwischen Biebrich und Rüdesheim ist damit geklärt. Wir sehen das in Bild 3: Die preußische Distanz ist  475 m  länger, das entspricht ca. +1,7 %; die Vermessungspunkte im Rheingau standen also "enger" als im gegenüberliegenden Rheinhessen. Zur Frage aus dem obigen zweiten Absatz nach den "fehlenden 475 m": Die Differenz von  475 m  zwischen den beiden Vermessungen entspricht keineswegs zufällig der Fehlstrecke am "kurzen km", denn die preußische Kilometrierung begann genau gegenüber dem vollen hessischen  km 335.  Die Abweichung spiegelt sich (allerdings nicht ganz gleichmäßig) in den alten Hektometermarkierungen, die man stellenweise noch am Rheinufer findet:

505,17  510,328  526,892

Bild 4   Preußische Hektometermarken  km 3,3  am Schiersteiner Hafen und  km 8,6  zwischen Walluf und Eltville; preußischer Hektometerstein  km 25,5  in Rüdesheim

Bild 4 zeigt drei Hektometermarkierungen, an denen die hessische und die preußische Vermessung nicht übereinstimmten; die preußischen Vermessungspunkte lagen dichter als die entsprechenden hessischen am anderen Ufer. Hier sind die Details dazu:

preuß.  hess.   (neu)
 0,0    335,0   (502,0)
 3,3    338,17  (505,17)   +3,94%
 8,6    343,328 (510,328)  +3,16%
25,5    359,892 (526,892)  +2,38%


Die %-Zahlen in der Tabelle zeigen die Abweichung der preußischen Messung gegenüber der hessischen (und der heutigen) an, bezogen auf den preußischen Nullpunkt. Weiter oben wurde schon die Abweichung von  +1,7 %  auf der Gesamtstrecke der ersten  28  preußischen Rhein-Kilometer angegeben. Zum Vergleich: Bei den Neueinmessungen Konstanz-Schaffhausen und Pfalz (siehe Teil 2) betragen die Abweichungen der alten landesspezifischen Messung gegenüber der heutigen  +1,85 %  bzw.  -0,31 % .

Zu einer vollständigen Erklärung der "fehlenden 475 m" würde gehören, wie die etwas unregelmäßig erscheinende preußische Vermessung im Rheingau zustande gekommen ist. Da sich auf der Rheinstrecke Mainz/Wiesbaden bis Bingen/Rüdesheim zwei Staaten gegenüberlagen, kommen sowohl Messungen entlang der Ufer als auch im Talweg in Frage.


Myriametersteine

Myriametersteine wie in Bild 2 wurden nach einer ersten vollständigen Rheinvermessung ab 1874 entlang der deutschen Rheinufer im Abstand von  10 km (= 1 Myriameter) aufgestellt, mit Nullpunkt an der Alten (heute mittleren) Baseler Brücke beim heutigen  km 166,64 .  In der Literatur findet man Hinweise auf niederländische Myriameter"pfosten", Belege dazu fehlen aber. Eigentlich sind diese Steine das Beste, was die deutschen Anliegerstaaten des Rheins für die Rhein-Kilometrierung zustande gebracht haben. Zwar gab es einige Jahre später eine präzisere Vermessung und bald danach (bis 1910) eine nochmalige Neuvermessung, aber diese hatten landesspezifische Nullpunkte. Die Myriametersteine dagegen, obwohl sie älter als die nachfolgenden Hektometerpunkte waren, zeugen von einer seltenen Einmütigkeit und Zusammenarbeit der betroffenen Staaten Baden, Bayern, Hessen und Preußen sowie des Reichslands Elsass-Lothringen, die schon einige Jahre später nicht mehr erreicht wurde. Die Vorteile der Myriametersteine liegen auf der Hand:

-  Sie standen unterbrechungslos und äquidistant von Stein  I (1) bei Weil-Märkt bis Stein  LXIX (69) bei Griethausen. Es gab also nur einen Nullpunkt und keine "kurzen Kilometer".

-  Die Steine standen sich paarweise exakt gegenüber. (Dies war bei den späteren Hektometerpunkten bei Pfalz/Baden und Hessen/Preußen nicht der Fall).

Von den ursprünglich  137  Steinen stehen heute noch etwa  85 ;  gut oder teilweise erhalten und (oft nur mit Mühe) leserlich sind davon etwa  65 . Das letzte "Opfer" (Stand September 2020) war der rechtsrheinische Stein  XXXVII  bei Lorch, der (zumindest zeitweise) der Baustelle auf der B 42 weichen musste. Viele Steine wurden seit ihrer Aufstellung schlecht behandelt: Sie wurden entfernt, versetzt, mit Graffiti besprüht oder abgeschliffen (zugunsten anderer Entfernungsangaben); andere verwitterten oder versanken an unzugänglichen Orten.

Es gab eine Standardausführung der Myriametersteine: Auf der Wasserseite stand die Nummer des Steins in römischen Ziffern und die Höhe über dem Amsterdamer Pegel, auf der Landseite standen die Entfernungen nach Basel und nach Rotterdam, auf der Berg- und der Talseite standen die Entfernungen zu den Landesgrenzen. Ein Beispiel ist der Myriameterstein  XXXV  in Oestrich (Bild 5), der teilweise unleserlich und durch Graffiti verunstaltet ist, und dessen Talseite die Entfernung zur rechtsrheinischen Grenze zwischen Preußen und den Niederlanden angibt:

516,998

Bild 5   Talseite des Myriametersteins  XXXV  bei  km 516,998 ;  die Beschriftung lautet "336,703 K.M. bis zur LandesGrenze"


Bemerkenswert ist, dass die Myriametersteine auf dem französischen Ufer deutsche Beschriftungen tragen. Das ist auch nicht verwunderlich, denn sie wurden erst nach 1871 aufgestellt.

Zahlreiche Steine weichen von der Standardausführung ab (siehe z.B. Bild 4 in Teil 2), teilweise mit kuriosen Inschriften; hier sind einige Beispiele:

-  In Niederdollendorf steht auf der RECHTEN Rheinseite der Myriameterstein  XLVIII ,  der auf seiner Bergseite die Entfernung zur preußischen Landesgrenze auf dem LINKEN Ufer angibt (117,78 km  bis zur Nahemündung).

-  In Südhessen wurden ab 1939 mehrere Steine abgeschliffen (u.a. XXX) und mit der neuen km-Markierung versehen (Entfernung von Konstanz statt von Basel); allerdings ist diese auf  XXVIII  (und einigen anderen) fehlerhaft: die Entfernung von Konstanz wird mit  450 km  statt mit  447 km  angegeben.

-  Der Stein  XXXVI  in Rüdesheim trägt keine Höhenangabe und zeigt dafür zur Wasserseite die Entfernungen nach Basel und Rotterdam.

Die erste Rheinvermessung, die zu den Myriametersteinen führte, war schon recht genau. Im Großherzogtum Hessen-Darmstadt stimmt die heutige Kilometrierung exakt mit den Myriametersteinen überein. In Preußen ergab die letzte Vermessung um die Jahrhundertwende Abweichungen gegenüber den Angaben auf den Myriametersteinen von maximal ca. 1 %. Diese Vermessung ist die Grundlage für die heutige Kilometrierung; die alten Hektometermarken wurden 1939 übernommen, nur die km-Tafeln wurden übermalt.

In Hessen-Darmstadt (zu dem der Rheingau nicht gehörte) stehen bis heute die Myriametersteine, sofern sie nicht versetzt wurden, an den Positionen  ..7,000 (.. steht für variable Ziffern, siehe Bild 4 in Teil 2). Der Bezugspunkt für diese Messungen liegt direkt am oberen Ende des "kurzen Kilometers" zwischen Baden und Hessen; dort lag der hessische (Anfangs-)km 270 (heute  km 437) exakt beim Myriameterstein  XXVII ,  also  270 km  unterhalb der mittleren Baseler Brücke.

Nördlich von Hessen-Darmstadt bis zu den Niederlanden stehen die Myriametersteine meist bei  ..7,475  (wegen des "kurzen Kilometers" bei Bingen).

Anders ist es in Baden: Dort müssten die Myriametersteine eigentlich an den Positionen  ..6,640  stehen, da die Baseler Brücke bei  km 166,640  liegt. Statt dessen schwanken die tatsächlichen Positionen stark, mit einem mittleren Wert von ca. ..6,5 .  Möglicherweise liegt das daran, dass in Baden ab 1883 nicht der Talweg des Rheins, sondern das rechte Ufer vermessen wurde; außerdem könnten einige Steine versetzt worden sein.


Nun zurück zu Preußen. Dort geben die Myriametersteine auf dem rechten Ufer die Entfernung zur Grenze nach Hessen mit  ..5,227  an; dies würde einem Nullpunkt bei  km 501,773  (statt ca. 502 (s.o.)) entsprechen. Hier zeigt sich, dass die beiden preußischen Vermessungen ab 1867 (für die Myriametersteine) und ab 1883 (für die Hektometermarkierungen) im Bereich des Rheingaus unterschiedliche Ergebnisse hatten; beide wurden 1939 verworfen, als die Vermessung vom linken Ufer übernommen wurde. Dies hat für den Spaziergänger am Rüdesheimer Rheinufer sehr verwirrende Auswirkungen. Er sieht dort ganz nahe beisammen Zeugnisse für drei verschiedene Messungen, die widersprüchlich sind, was aber nur auf die unterschiedlichen Zeitpunkte der Vermessung zurückzuführen ist (Bild 7):

526,892   527   527,03

Bild 7   Drei Entfernungsangaben von der hessisch/preußischen Grenze flussabwärts:
Bild 7   25,500 km  (steht bei  km 526,892)
Bild 7 ~25,000 km  (km 527,000 ,  Abstand zur Grenze bei ca. km 502)
Bild 7   25,227 km  (steht bei  km 527,030)

Das erscheint schon ein wenig chaotisch: Geht man rheinabwärts, stößt man auf den preußischen Hektometerstein  25,5 (gezählt ab Biebrich, das flussaufwärts hinter einem liegt), und  138 m  weiter auf den ebenfalls preußischen Myriameterstein, der die geringere Entfernung  25,227 km  angibt. Dazwischen steht noch die moderne km-Tafel, die mit keinem der beiden preußischen Steine kompatibel ist. Im Rheingau gibt es also vermessungshistorisch Einiges zu entdecken, siehe auch die Tabelle unter Bild 4.

Wir bleiben auf dem rechten preußischen Rheinufer: Die Myriametersteine geben auch die Entfernung bis zur niederländischen Grenze an (Bild 8):

527,03

Bild 8   Myriameterstein  XXXVI  bei  km 527,03 mit Entfernungsangabe zur Grenze Preußen/Niederlande: 326,703 km

Flussabwärts liegen auch die weiteren Entfernungsangaben auf den Myriametersteinen bei  ..6,703 .  Wir stoßen hier auf eine weitere Ungereimtheit: Die Grenze müsste somit, unter Berücksichtigung des "kurzen Kilometers", bei ca. km 854,2 liegen. Tatsächlich liegt sie aber bei  km 857,67 ,  also ca. 3,58 km  weiter. Dies lässt sich erklären: Wegen der verschiedenen Messungen wurden die Myriametersteine zunächst gemäß der vorletzten preußischen Vermessung aufgestellt und dann um die Jahrhundertwende (nicht ganz vollständig) umgesetzt. Dadurch harmonieren zwar ihre Standorte mit der heutigen Kilometrierung und bzgl. der Angabe zur Landesgrenze bergwärts, aber Richtung Niederlande stimmt die Entfernungsangabe auf den Steinen nicht mehr.

Zuletzt noch das linke Ufer: Auf den preußischen Myriametersteinen finden wir durchgehend die Entfernung  ..7,780  zur Grenze nach Hessen in der Nahemündung und  ..4,464  zur niederländischen Grenze  -  hier fehlen ca. 3,25 km  bis zur tatsächlichen Grenze bei  km 865,52 .  -  Die Grenze in der Nahemündung wurde durch die Myriametersteine auf den preußischen  km 27,695  festgelegt; wegen des "kurzen Kilometers" liegt dieser Punkt beim heutigen  km 529,22 ,  also auf der Gemarkungsgrenze Bingen/Bingerbrück in der Mitte des Rheins.


Literatur

[1]  Bruno P. Kremer, Der Rhein: Von den Alpen bis zur Nordsee. Duisburg 2010
[2]  Bruno P. Kremer, Die Kilometrierung des Rheins, in: Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 2010, S. 136-141
[3]  Wilhelm Schneider, Die Längenmessung im Talweg des Rheines (Kilometrierung), in: Der Rhein. Ausbau, Verkehr, Verwaltung. Duisburg 1951


Kategorie: Geomathematik                    Kommentare sind willkommen.



Stand 2021-02-10, Nacharbeiten 2023-09-14 und 2024-02-26


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