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Rhein-Kilometrierung Teil 5 Copyright Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 6
Myriametersteine Kommentare sind willkommen.
Im fünften Teil der Blog-Beiträge zur Rhein-Kilometrierung soll die Geschichte der Myriametersteine entlang der Rheinufer behandelt werden. Eine kurze Zusammenfassung gab es schon in Teil 3 (Blog # 8).
Die Vorsilbe myria- steht für 10000 . Myriametersteine findet man also im Abstand von 10 km , jeweils einander gegenüberstehend an beiden Rheinufern. Sie stehen zwischen der deutsch-schweizerischen und der deutsch-niederländischen Grenze und sind durchgehend nummeriert von 1 - 69 – denn die Länge des deutschen Anteils am Rhein beträgt etwa 690 km . Die Myriametersteine findet man also nur in Deutschland und in Frankreich.
Mit den Myriametersteinen wurde erstmalig eine durchgehende Längenmarkierung für den Rhein zwischen der Schweizer und der niederländischen Grenze vorgenommen, die vor allem der Schifffahrt und dem Handel dienen und vereinheitlichte Zollbestimmungen ermöglichen sollte.
Die Setzung der Myriametersteine geht zurück auf einen Beschluss der Central-Commission für die Rheinschiffahrt aus dem Jahr 1867. Diese Kommission war 1815 von den Rheinanliegerstaaten Baden, Frankreich, Bayern (für die Pfalz), Hessen, Nassau, Preußen und Niederlande gegründet worden. Nassau war 1866 an Preußen gefallen und nahm deshalb nicht mehr teil. Die Steine auf dem heutigen französischen Rheinufer wurden erst nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 aufgestellt und tragen deshalb deutsche Inschriften (Elsass-Lothringen war von 1871 bis 1918 ein deutsches "Reichsland"). In den Niederlanden sollten "Myriameterpfähle" aufgestellt werden; sie sind nicht auffindbar. So bleiben nur Baden, Elsass-Lothringen, Bayern, Hessen und Preußen als Verantwortliche für die Setzung der aktuell bekannten Steine übrig. Eine Karte mit den damaligen Grenzen der Länder findet man in Teil 2 (Blog # 7).
Es ist bemerkenswert, dass sich die zuständigen Staaten zu einer einmütigen Zusammenarbeit bereitfanden und gemeinsam ein einheitliches Vermessungswerk schufen. Schon bei der folgenden Neuvermessung des Rheins ab 1883 war die Einmütigkeit dahin, was man bis heute an der aktuellen Rheinkilometrierung mit drei "kurzen Kilometern" besichtigen kann, siehe Teil 2 (Blog # 7).
Bild 1 zeigt einen ausgesprochenen Glücksfall für den Erhaltungszustand eines Myriametersteins; so schöne Exemplare findet man heute leider nur noch selten.
Bild 1 Myriameterstein XIX (19) am linken Rheinufer in der pfälzischen Gemeinde Neuburg (Verbandsgemeinde Hagenbach)
Bild 1 von links nach rechts: Wasserseite Bergseite (Südseite) Talseite (Nordseite) Landseite Copyright
Bild 1 zeigt ein typisches Beispiel für Myriametersteine in der ursprünglichen Form. Sie waren im Regelfall quaderförmig, 50 cm breit, 50 cm tief, ca. 80 cm hoch (schwankt) mit einer flachen pyramidalen Spitze, und standen auf einem breiteren Sockel.
Wasserseite: Nr. des Steins in römischen Ziffern, hier XIX . Höhe über dem Amsterdamer Pegel mit waagerechtem Pegelstrich, hier 107,803 M +AP ( M steht für Meter).
Bergseite: Entfernung zur Landesgrenze nach Süden, hier 0,434 M. (zur Grenze Elsass-Lothringen / Pfalz (bayr.); M. steht für Myriameter , die Grenze ist also 4,34 km entfernt).
Talseite: Entfernung zur Landesgrenze nach Norden, hier 8,137 M. (zur Grenze Pfalz / Hessen, die Grenze ist also 81,37 km entfernt).
Landseite: Entfernung zur mittleren Baseler Brücke, entspricht immer der Stein-Nummer, hier 19,000 M.(19 Myriameter = 190 km). - Entfernung nach Rotterdam, hier 63,445 M.(= 634,45 km).
Von diesem Standard gibt es etliche Abweichungen, siehe z.B. Bild 2 in Teil 2 (Blog # 7). Insbesondere können Beschriftungen auf einzelnen Seiten der Steine fehlen. Ich antworte gern auf Mails mit Kommentaren oder Nachfragen zu bestimmten Steinen.
Das Schicksal der Myriametersteine
Die Myriametersteine sind mittlerweile ca. 150 Jahre alt. Leider wurden sie fast überall sehr vernachlässigt oder misshandelt. Bei der folgenden Aufzählung sind die Nummern in Klammern nur Beispiele, in Wirklichkeit gibt es deutlich mehr Untaten.
Was den Steinen alles widerfahren ist: Sie wurden vernichtet (34 re.), verschleppt (68 li.), versetzt (65 re.), verdreht (59 re.), bei der "Restaurierung" verfälscht (50 re.), mit Grafitti besprüht (35 re.), (fehlerhaft) einer Neuvermessung angepasst (29 re.). - Schon bei der Aufstellung waren einige Steine unvollständig (36 re.) oder fehlerhaft (9 li.) beschriftet. Viele sind seitdem zerbrochen (66 re.), umgefallen (9 li.), eingesunken (33 re.) oder durch Verwitterung unleserlich geworden (49 re.).
Bemerkenswert ist das "hessische Massaker" (meine Formulierung; ist natürlich nicht ganz ernst gemeint). Auf dem Gebiet des ehemaligen Großherzogtums (und späteren Volksstaats) Hessen, das beide Rheinufer auf einer längeren Strecke umschloss (im Gegensatz zum heutigen Bundesland Hessen), wurden zahlreiche historische Gravuren auf den Myriametersteinen 27 bis 32 abgefräst. Statt der Entfernungen nach Basel wurden die Entfernungen nach Konstanz eingraviert, und das teilweise noch fehlerhaft (siehe Bild 2). Dies kann erst nach der Neueinmessung von 1939 stattgefunden haben und erscheint nicht nur als Frevel an Denkmalen, sondern auch als besonders sinnlos, da ja die Entfernung von Konstanz schon auf den 1939 an gleicher Stelle aufgestellten km-Tafeln angegeben wird. – Außerdem sind die anderen Seitenflächen der Steine weitgehend kahl, erst ab Stein 32 findet man wieder einigermaßen lückenlos die Entfernungen zu den Landesgrenzen.
Bild 2 Myriameterstein XXVIII (28) am rechten Rheinufer auf der Maulbeeraue bei Biblis-Nordheim, links Wasserseite, rechts Landseite Copyright
Bild 2 Auf der Wasserseite zeigt 447 die Entfernung in km nach Konstanz an; die gleiche Zahl steht auf den modernen Tafeln oben im rechten Bild und auf dem gegenüberliegenden Ufer.
Bild 2 Auf der Landseite steht eine falsche Entfernung.
Bild 2 Alle anderen Angaben fehlen: Stein-Nr., Pegel, Entfernungen zu den Landesgrenzen und nach Rotterdam. Der Pegelknopf auf der Spitze ist immerhin noch erhalten, aber er ist wertlos ohne die Höhenangabe.
Anzahl der Myriametersteine
Zwischen der nördlichen Stadtgrenze von Basel und der deutsch-niederländischen Grenze wurden 138 Myriametersteine aufgestellt. Es fängt schon nicht gut an: die beiden Steine mit der Nummer I wurden offenbar bisher nicht aufgefunden. Im weiteren Verlauf scheinen ca. 50 Steine verloren gegangen zu sein. Der letzte bekannte Myriameterstein mit der höchsten Nummer (69 links) scheint nicht mehr der originale zu sein.
Am nördlichen Niederrhein findet man nur noch wenige Steine, die an ihrem Ursprungsort stehen und unverfälschte Inschriften tragen. Wahrscheinlich ist der Stein 62 links in Duisburg-Baerl der letzte, der einen Besuch wirklich lohnt (auf ihm fehlt nur die Pegelhöhe).
Längenmaße; Entfernungen nach Basel / Konstanz / Rotterdam
Ein wesentliches Element der erfolgreichen Kooperation der Rheinanliegerstaaten war die einheitliche Anwendung des Meters als Längenmaß. Noch bis 1871 war der Fuß eine gängige Maßeinheit; er hatte unterschiedliche Längen in den einzelnen deutschen Staaten. Allerdings gab es seit ca. 1810 einen Kompromiss zwischen den alten und den neuen Maßen, der u.a. auf Johann Gottfried Tulla zurückging. Er hatte im Vorfeld der Arbeiten zur Begradigung des Oberrheins erreicht, dass Baden die Länge der Ruthe neu festlegte, und zwar zu 300 cm , und die Länge des Fuß zu 30 cm , also kompatibel zum metrischen System. Hessen hatte ähnlich gehandelt, dort war allerdings der neu festgelegte Fuß nur 25 cm lang. Der Maße-Kompromiss hatte in der Central-Commission für die Rheinschiffahrt die Einigung auf die Anwendung des Meters bei den Vermessungsarbeiten erleichtert, die der Aufstellung der Myriametersteine vorausgegangen waren.
Die auf den Myriametersteinen angegebenen Entfernungen von Basel entsprechen der Stein-Nr., wenn man die hessischen und preußischen Angaben in Myriameter umrechnet. Wie diese Entfernungsangaben mit der heutigen Kilometrierung harmonieren, werden wir in den nächsten Abschnitten sehen. Wie schon erwähnt, wurden auf ehemals hessischem Gebiet bei zahlreichen Steinen die Entfernungen von Basel entfernt und (teilweise fehlerhaft) durch die Entfernungen von Konstanz ersetzt (siehe Bild 2).
Die Entfernung nach Rotterdam (umgerechnet in Myriameter) wird auf fast allen Steinen mit ..,445 angegeben und wurde vermutlich entlang der niederländischen Waal gemessen. Die (sehr wenigen) Ausnahmen können evtl. darin begründet liegen, dass es verschiedene Wasserwege nach Rotterdam gibt, siehe Teil 4 (Blog # 9).
Pegel
Die Pegelhöhe wird auf allen Myriametersteinen in Metern angegeben. Häufig findet man einen Metallknopf anstelle des Pegelstrichs. Gemessen wurde die Höhe des Pegelstrichs oder des Pegelknopfs über dem Nullniveau des Amsterdamer Pegels; diese Angabe wurde später als Höhe über Normal-Null (Höhe ü. NN) übernommen. Am Niederrhein sind die Pegelangaben mit wachsender Stein-Nr. nicht überall monoton fallend; dies könnte u.a. an unterschiedlichen Deichhöhen liegen. Die Pegelhöhe fehlt (heute) auf vielen Myriametersteinen.
Standorte der Myriametersteine; Entfernungen zu den Landesgrenzen
Zum Auffinden der Myriametersteine ist es hilfreich, wenn man deren Positionen in der heutigen Rhein-Kilometrierung kennt. Wegen der "kurzen Kilometer" sind diese Positionen nur innerhalb der früheren Rheinanliegerstaaten annähernd äquidistant (nämlich alle 10 km , falls sie nicht versetzt wurden), aber zwischen den Staaten verschieden. Anhand der Tabelle weiter unten kann man die Positionen leicht errechnen. Sie sollen vorab kurz zusammengefasst werden:
Baden, Elsass, Pfalz ~..6,5
Hessen ..7
Preußen ..7,475 (Rheingau ~..7)
Die Ungenauigkeiten (Baden, Elsass, Pfalz, Rheingau) werden unten bei "Wie ging es weiter?" erklärt. Exakte Positionen (auch der versetzten Steine) findet man bei Wikipedia.
Außer den Positionen gibt die Tabelle die Entfernungen zu den Landesgrenzen an. Dabei handelt es sich um die Rekonstruktion der historischen Beschriftungen der Myriametersteine; viele dieser Beschriftungen sind heute nicht mehr lesbar. Es gibt auch einzelne Abweichungen von den korrekten Werten, die unter der Tabelle erläutert werden; die Tabelle dient also auch der einfacheren Identifizierung dieser Abweichungen. - Die Tabelle ist von unten nach oben zu lesen, entsprechend dem Flusslauf von Süden nach Norden.
Landesgrenze Landesgrenze
Stein Nr. Standort li. bergwärts talwärts Stein Nr. Standort re. bergwärts talwärts
LXIX 69 857,475 Griethausen 327,78 km 4,464 km
... ... LXVIII 68 847,475 Dornick 345,227 km 6,703 km
... ... ... ...
Preußen ... Preußen ...
... ... ... ...
XXXVII 37 537,475 Trechtingsh'n 7,78 km 324,464 km ↑ XXXVII 37 537,475 Lorch 35,227 km 316,703 km
--------------------------------------------------- kurzer km
XXXVI 36 527 Bingen 88600 m 2133 m XXXVI 36 527,03 Rüdesheim 25,227 km 326,703 km
... ... ↑ XXXV 35 516,998 Oestrich 15,227 km 336,703 km
... ... XXXIV 34 ~507 Walluf 5,227 km 346,703 km
... ... R ----------------------------------------------------
Hessen ... H XXXIII 33 497 Kostheim 59971 m 4941 m
... ... E ... ...
... ... I Hessen ...
... ... N ... ...
XXVIII 28 447 Worms Ind.geb. 8600 m 82133 m XXVIII 28 447 Nordheim 9971 m 54941 m
--------------------------------------------------- ↑ ----------------------------------------------------
XXVII 27 436,635 / 437 Roxheim 8,434 M 0,137 M XXVII 27 436,635 / 437 Lampertheim Grenze 64941 m
... ...
siehe Tabelle unter "Fehler und Merkwürdigkeiten 3" (s.u.)
... ...
kurzer km ---------------------------------------------
Pfalz ... ↑ XXVI 26 ~426,5 Mannheim 25,652 M 1,0072 M
... ... ... ...
XIX 19 ~356,45 Neuburg 0,434 M 8,137 M ... ...
--------------------------------------------------- ... ...
XVIII 18 ~346,5 Mothern badische M ... ...
... ... Baden ...
XII 12 ~286,5 Rohrschollen 11,815 M 6,556 M ... ...
... ... ... ...
Elsass Lothringen ... ... ...
... ... ... ...
I 1 ~176,5 Rosenau 0,815 M 17,556 M I 1 ~176,5 Märkt 0,652 M 26,0072 M
Legende zur Tabelle:
M = Myriameter
"badische M" : Im Elsass wurden die Myriametersteine nahe der Grenze zur Pfalz mit den Angaben der rechten Rheinseite beschriftet (Beispiel: Stein Nr. 17 ).
Zu den "kurzen km" siehe Teil 2 = Blog # 7.
Die Tabelle zeigt die Entfernungen zu den Landesgrenzen in der ursprünglichen Planung. Einige Myriametersteine weisen aber (teils unerklärliche) Abweichungen auf. Auf einer Handvoll von Steinen sieht man kleinere "Schreibfehler", die hier nicht im einzelnen aufgeführt werden sollen. Die interessanteren Fälle sind die folgenden:
Fehler und Merkwürdigkeiten 1 - Falsche Rheinseite
In der Legende wurde schon erwähnt, dass im Norden des Elsass die letzten Steine vor der Grenze zur Pfalz die badischen Entfernungsangaben von der gegenüberliegenden rechten Rheinseite tragen. Wieviele Steine davon betroffen sind, ist unbekannt, da viele Steine in dieser Region verschollen sind. Kaum lesbar, aber von Deutsche Leuchtfeuer dokumentiert, ist diese Kuriosität nur an den Steinen 17 und
18 anzutreffen.
Auf preußischem Gebiet stehen zwei Myriametersteine mit Entfernungsangaben, die zur anderen Rheinseite gehören:
Nr. 48 re. trägt die linksseitige bergseitige Entfernung 117,180 km , die außerdem noch fehlerhaft ist, richtig wäre 117,780 km (siehe Bild 3 links).
Nr. 55 li. trägt die rechtsseitige talseitige Entfernung 136,703 km und die rechtsseitige bergseitige Entfernung 225,227 km , die außerdem noch fehlerhaft ist, richtig wäre 215,227 km (die Herkunft dieser Daten in Deutsche Leuchtfeuer ist unbekannt, da die Gravuren auf dem Stein nicht mehr lesbar sind).
Bild 3 links: Myriameterstein XLVIII (48) am rechten Rheinufer in Niederdollendorf, Bergseite und Landseite Copyright
Bild 3 Mitte: Myriameterstein XLVIII (48) am rechten Rheinufer in Niederdollendorf, Landseite und Talseite Copyright
Bild 3 rechts: Myriameterstein XLIII (43) am linken Rheinufer in Koblenz-Kesselheim, Wasserseite und Talseite Copyright
Fehler und Merkwürdigkeiten 2 – Preußische Nordgrenze
Die Grenze zu den Niederlanden liegt linksrheinisch bei km 865,515 und rechtsrheinisch bei km 857,667 . Auf 7,815 km verläuft die Grenze durch die Strommitte. Die Extrapolation der Angaben auf den Myriametersteinen würde Grenzen bei km 861,939 bzw. km 854,178 ergeben. Dies lässt sich erklären: Wegen der verschiedenen Messungen wurden die Myriametersteine zunächst gemäß der vorletzten preußischen Vermessung aufgestellt und dann um die Jahrhundertwende (nicht ganz vollständig) umgesetzt. Dadurch harmonieren zwar ihre Standorte mit der heutigen Kilometrierung und bzgl. der Angabe zur Landesgrenze bergwärts, aber Richtung Niederlande stimmt die Entfernungsangabe auf den Steinen nicht mehr.
Auch hier fallen zwei Steine aus der Rolle. Auf dem oben schon erwähnten Stein Nr. 48 re. gibt es eine weitere Abweichung: Statt der zu erwartenden Entfernung 206,703 km zur niederländischen Grenze liest man 209,000 km (siehe Bild 3 Mitte). Das ist immerhin etwas näher an der tatsächlichen Grenze. Ein weiterer Stein ist offenbar in jüngerer Zeit nachbearbeitet (und verfälscht) worden: Nr. 43 li. trägt die stümperhafte Aufschrift "268,100 K.M. bis zur BundesGrenze" (siehe Bild 3 rechts); die Bundesgrenze müsste demnach bei km 865,575 liegen, was ziemlich genau stimmt.
Fehler und Merkwürdigkeiten 3 – Vergleich der Süd- und Nordgrenzen
Die "Lücke" an der preußisch-niederländischen Grenze wurde schon im vorigen Abschnitt besprochen. Aber auch an den übrigen früheren Grenzen gibt es Abweichungen bei den Grenzangaben auf den Myriametersteinen zur heutigen Kilometrierung. Teilweise waren sich wohl die beteiligten Staaten bzgl. der genauen Position ihrer Grenzen nicht einig, siehe die folgende Tabelle.
m bis Grenze (in Klammern: dort würde die Grenze lt. Steinen liegen)
links
Niederlande keine Steine bekannt (Landesgrenze km 865,515)
Preußen ...4464 (km 861,939)
fehlen 3576
rechts
Preußen ...6703 (km 854,178)
Niederlande keine Steine bekannt (Landesgrenze km 857,667)
fehlen 3490
links
Preußen ...7780 (km 529,22)
Hessen ...2133 (km 529,133)
fehlen 87 Dies könnte die Breite der Nahemündung sein.
rechts
Preußen ...5227 (km 501,773)
Hessen ...4941 (km 501,941)
Hier lohnt sich ein Blick auf zwei Karten, die die Grenze zeigen:
Bild 4
Die linke Karte in Bild 4 zeigt die Grenze in Grün. An der Brücke (die damals noch nicht existierte) sieht man einen Knick: Die "Landgrenze" lag etwa beim heutigen km 501,9, die "Wassergrenze" bei ca. km 501,95 (bei km 501,941, wenn man den hessischen Myriametersteinen vertraut). – Die rechte Karte ist ein Ausschnitt aus einem älteren Stadtplan von Mainz und zeigt andeutungsweise den erwähnten Knick am rechten Ufer, aber außerden, dass die hessisch-preußische Grenze einen weiten Bogen nach Osten um die Rettbergsaue machte – das könnte evtl. die Entfernungsangabe auf den preußischen Myriametersteinen erklären.
Hessen ...8600 (km 438,4)
Pfalz ...1370 (km 438,37)
fehlen 30
Hessen ...9971 (km 437,029)
Baden ...72 (km 437,072)
Überlappung 43 Demnach stand Stein 27 auf badischem Gebiet! Beide Staaten nannten auf ihren angrenzenden Steinen 26 und 28 Grenzpunkte unterhalb des Steins 27. Er sieht aber "hessisch" aus und wurde nach 1939 auch noch "massakriert".
Pfalz ...4340 (km 352,11 etwas unsicher)
Elsass ...5560 (km 352,04)
fehlen 100 Grenze bei 352,07 nach Schneider (Lit. [3] in Teil 1 (Blog # 6))
Baden ...6250 (ca. km 170,25)
Schweiz keine Steine gesetzt (Landesgrenze ca. km 170,0)
fehlen ca. 250
Elsass ...8150 (ca. km 168,35)
Schweiz keine Steine gesetzt (Landesgrenze ca. km 168,4)
Legende anhand eines Beispiels: Hessen/Pfalz
Die hessischen Steine unterhalb der Grenze zeigen 8600 m, 18600 m, 28600 m ... als Abstände zur Grenze an.
Die pfälzischen Steine oberhalb der Grenze zeigen 0,137 M, 1,137 M, 2,137 M ... als Abstände zur Grenze an, also 1370 m, 11370 m, 21370 m ....
Wegen 8600 + 1370 = 9970 fehlen 30 m.
Die km-Angaben in Klammern beziehen sich auf die heutige Kilometrierung. Demnach hat Hessen die Grenze beim heutigen km 438,4 "definiert" und die Pfalz beim heutigen km 438,37; hier fehlen also ebenfalls 30 m.
Wie ging es weiter?
Neuvermessungen des Rheins fanden 1883 - 1890 und 1902 - 1910 statt. Es ist nur schwer nachzuvollziehen, dass bei diesen Vermessungen - anders als bei den Myriametersteinen - landesspezifische Nullpunkte gewählt wurden, so dass an jeder Landesgrenze ein Bruch in der Kontinuität der km-Angaben auftrat, siehe Teil 2 (Blog # 7). Die Neuvermessungen wurden für die Rheinanlieger und vor allem für die Schifffahrt deutlich sichtbar gemacht: Erstmals wurden gut sichtbar große km-Tafeln und kleine Hektometertafeln entlang beider Ufer aufgestellt, ergänzt durch Bodenmarkierungen, siehe Teil 1 (Blog # 6). Wegen der Uneinheitlichkeit zwischen den Rheinanliegerstaaten musste man hinnehmen, dass die km-Tafeln in der Pfalz nicht denen in Baden, und die km-Tafeln im preußischen Rheingau nicht denen im linksrheinischen Hessen (Rheinhessen) gegenüberstanden. In dieser Hinsicht kann man von einem politisch bedingten Rückschritt gegenüber den Myriametersteinen sprechen.
Die bisher letzte Neuerung bei der Rhein-Kilometrierung wurde 1939 vorgenommen. Von Konstanz bis zur Rheinmündung wurde eine durchgehende Zählung eingeführt. Da man so weitgehend wie möglich die bereits vorhandene Beschilderung erhalten wollte, wurden die km-Tafeln mit neuen Zahlen übermalt; an drei Stellen führte das zu "kurzen Kilometern", siehe Teil 2 (Blog # 7). Nur in der Pfalz und im Rheingau wurde die alte Beschilderung aufgegeben und die Kilometrierung der gegenüberliegenden Rheinseite (Baden bzw. Hessen) übernommen.
Die Standorte der Myriametersteine gemäß der heutigen Ausschilderung gehen also letztlich auf die Vermessungen 1902 - 1910 zurück, mit Ausnahme der Pfalz und des Rheingaus, wo 1939 eine Neuvermessung vorgenommen wurde.
Entlang der Rheinstrecke entlang des ehemaligen Gebiets des Großherzogtums Hessen sieht man eine Besonderheit: Hessen hatte als einziger Staat die mittlere Baseler Brücke als Nullpunkt gewählt, die auch als Nullpunkt für die Myriametersteine festgelegt worden war. Deshalb stehen dort (im ehemaligen Großherzogtum) die Myriametersteine exakt an den Kilometertafeln. Bis 1939 stimmten sogar die km-Angaben auf Steinen und Tafeln überein. – Auf preußischem Gebiet ab der linksrheinischen Grenze zum Großherzogtum Hessen stehen die (meisten) Myriametersteine beidseitig ebenfalls im Abstand von 10 km nach heutiger Kilometrierung. Wegen des "kurzen Kilometers" an dieser Grenze findet man sie um 475 m versetzt zu den Kilometertafeln (siehe oben unter "Standorte der Myriametersteine").
Im Rheingau ist es kompliziert; dort wurde dreimal gemessen: Für die Myriametersteine, dann 1902 - 1910, erneut 1939, wobei letztere Messung lediglich die Hektometerpunkte des gegenüberliegenden Ufers übernahm. Bild 7 in Teil 3 (Blog 8) zeigt, dass alle drei Messungen verschiedene Ergebnisse hatten. Die beiden noch vorhandenen Rheingauer Myriametersteine mit den Nrn. 35 und 36 stehen aber recht nahe an den km-Tafeln 517 und 527 .
Es bleibt nur noch Baden zu betrachten (denn im Elsass orientierten sich alle Vermessungen an Baden, und in der Pfalz war das 1939 der Fall, als dort die alte Landesvermessung aufgegeben wurde). Als Nullpunkt für die Myriametersteine wurde die Alte (heute mittlere) Baseler Brücke beim heutigen km 166,64 festgelegt. Demnach sollten eigentlich oberhalb des "kurzen Kilometers" an der badisch-hessischen Grenze die Myriametersteine 1 - 27 an den heutigen Positionen ..6,64 stehen. Aber offenbar differierten dort die Vermessungen für die Steine um bis zu 200 m gegenüber den Vermessungen 1902 - 1910. Über weite Strecken findet man (ungefähre) Positionen ..6,45 und ..6,5 . Möglicherweise liegt das daran, dass in Baden nicht der Talweg des Rheins, sondern das rechte Ufer vermessen wurde. Außerdem ist bei vielen Steinen unklar, ob sie noch an ihrem Ursprungsort stehen. – Erst an der Grenze zu Hessen harmoniert die Position des Steins XXVII (27) beim modernen km 436,635 wieder mit der Entfernung von Basel.
Auch die Aufsummierung der Rheinstrecken in den ehemaligen deutschen Rheinanliegerstaaten nach den Angaben auf den Myriametersteinen (siehe Tabelle weiter oben) zeigt, dass man sich die Neuvermessungen (und damit die "kurzen km") hätte sparen können. Sie unterscheidet sich nämlich von der Länge des deutschen Rheins gemäß der heutigen Ausschilderung nur marginal, nämlich um ca. 0,5 %.
Bilder der Myriametersteine bei Wikipedia Commons
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Quellen und Autor:
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Bild 1: Wasserseite
Bergseite
Talseite
Landseite
Bild 2: Wasserseite
Landseite
Bild 3: Berg-/Landseite
Land-/Talseite
Wasser-/Talseite (alle bearbeitet)
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Kategorie: Geomathematik Kommentare sind willkommen.
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