Manfred Börgens
Mathematische Probleme  # 101
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Konstruktion des regelmäßigen Neunecks

          Die Lösung steht im unteren Teil der Seite.

In Problem # 65 wurde die Konstruktion des regelmäßigen Siebenecks und des regelmäßigen Achtecks behandelt. Das regelmäßige Siebeneck lässt sich mit Zirkel und Lineal nur näherungsweise konstruieren. Aber die Baumeister und Künstler früherer Zeiten (so wie Meister Roriczer in Problem 65) waren findig darin, möglichst gute Näherungen zu ersinnen. Für das Neuneck gibt es eine Konstruktion von Albrecht Dürer, der bereits auf der Briefmarke # 95 vorgestellt wurde. Bild 1 zeigt eine andere Briefmarke mit seinem Porträt.

Duerer-Briefmarke

Bild 1  -  Albrecht Dürer
1961, Michel 350, Scott 827



Ein regelmäßiges Neuneck soll in einen Kreis mit Mittelpunkt  M  und Radius  r = MB  einbeschrieben werden, siehe Bild 2. Der klassische Weg geometrischer Konstruktionen geht auf die griechische Mathematik der Antike zurück und erlaubt nur die Verwendung von Zirkel und Lineal. Offenbar reicht es aus, einen  40°-Winkel zu konstruieren. Die exakte Konstruktion dieses Winkels ist aber nicht möglich (dies wurde durch Pierre Laurent Wantzel bewiesen, siehe Briefmarke # 29). Gesucht ist also eine Konstruktion eines Winkels  φ , der näherungsweise  40°  beträgt. Der Winkel  ∠BME  zwischen den Radien  MB  und  ME  in Bild 2 beträgt näherungsweise  20°, führt also durch Verdopplung zum gewünschten Resultat. Diese und die anderen Linien in Bild 2 stammen aus einer Konstruktion von Albrecht Dürer.

Konstruktion Duerer

Bild 2  -  Dürer-Konstruktion

Wie ist Dürer vorgegangen? Er beschreibt es im zweiten Band seiner Underweysung der Messung, mit dem Zirckel unnd Richtscheyt, in Linien, Ebnen unnd gantzen Corporen im Jahr 1525. Der Radius  r  wird nochmal abgetragen, von  B  nach  C  als Kreissehne. Ein zweiter Kreis wird um  C  geschlagen, wieder mit Radius  r ; er verläuft also durch  M  und  B . Sodann wird der Radius  MB  gedrittelt, dadurch erhält man den Punkt  A . Dort errichtet man die Senkrechte auf  MB , die den zweiten Kreis in  D  schneidet. Die Strecke  MD  wird bis  E  auf dem Kreis verlängert. Der Winkel  φ/2 = ∠BME  beträgt dann näherungsweise  20°.


Aufgabe 1
Wie exakt ist die Dürer-Konstruktion?
Hier wird also nach der genauen Größe des Winkels  φ  gefragt.


In Howard Eves' Buch  Mathematical Circles Squared  wird im Abschnitt  " 87 ° "  eine Konstruktion des regelmäßigen Neunecks angegeben, die Ähnlichkeit zur Konstruktion von Dürer aufweist. Die einzelnen Schritte sind in Bild 3 zu sehen. Auch hier soll wieder ein Winkel  φ  40°  mit Zirkel und Lineal konstruiert werden.

Konstruktion Eves

Bild 3  -  Eves-Konstruktion

Eves beschreibt genau genommen zwei verschiedene, aber zusammengehörige Konstruktionen. Die Konstruktion in der mittleren Skizze von Bild 3 schreibt er Dürer zu (vielleicht wegen der Ähnlichkeit mit Bild 2), aber das erscheint fragwürdig.

Die Skizzen in Bild 3 gehen von einem Kreis mit Mittelpunkt  M  und Radius  r1 = MA  aus, in den das Neuneck eingezeichnet werden soll. Dies ist der kleine Kreis im unteren Teil der Skizzen. Man zeichnet einen zweiten, größeren Kreis um  M  mit Radius  r2 = MB ; die genaue Größe von  r2  wird später noch festgelegt.

Der Radius  r2  wird nochmal abgetragen, von  B  nach  C  als Kreissehne. Man schlägt nun einen Kreisbogen um den Mittelpunkt  C  mit Radius  r2 ; dieser verläuft durch  M  und  B . Er schneidet den kleinen Kreis im Punkt  D .

In der mittleren Skizze von Bild 3 sieht man nun das Ergebnis der ersten Konstruktion: Der Winkel  φ/2 = ∠AMD  beträgt (bei geeigneter Wahl von  r2 )  ca.  20°, ist also der halbe Winkel, der für die Konstruktion des Neunecks benötigt wird.

Eine Variante sieht man in der rechten Skizze von Bild 3: Der Winkel   = ∠EMD  beträgt (bei geeigneter Wahl von  r2 )  ca.  80°, ist also der doppelte Winkel, der für die Konstruktion des Neunecks benötigt wird.

Die Länge von  r2  ist bisher offen geblieben und führt zu den nächsten Aufgaben.


Aufgabe 2
Eves hat  r2 = 3·r1  gewählt. Wie exakt sind dann die beiden Konstruktionen? Hier wird wieder nach der genauen Größe des Winkels  φ  gefragt.


Aufgabe 3
Die Güte der Näherung lässt sich verbessern, wenn man in  r2 = a·r1  für  a  einen anderen Faktor als  3  wählt. Was wäre der optimale Faktor  a ?  a·r1  muss aber mit Zirkel und Lineal konstruierbar sein.
In Problem # 87 wurde gezeigt, wie man dafür eine Kettenbruchentwicklung einsetzen kann.




Lösung



Aufgabe 1
Wie exakt ist die Dürer-Konstruktion?
Hier wird also nach der genauen Größe des Winkels  φ  gefragt.

Wir legen die Skizze von Bild 2 in ein cartesisches (x,y)-Koordinatensystem mit  M =(0,0). Dann ist

C = (c1,c2) = (r cos 30°, r sin 30°) = (r √3/2, r/2)

Der Kreis durch  M  und  B  wird durch (x-c1)2 + (y-c2)2 = r2  beschrieben. Sein Schnittpunkt  D  mit der Geraden  y = r/3  genügt also der Gleichung (x - r √3/2)2 + r2/36 = r2  oder |x - r √3/2| = r √35 /6 . Wegen  x < 0  ist  x = r(√3/2 - √35 /6).

Der gesuchte Winkel  ∠BME  ist gleich dem Winkel  ∠AMD ; diesen Winkel bezeichnen wir mit  β  und erhalten  tan β = DA/MA = (√35 /6 - √3/2)/(1/3). Daraus folgt für den gesuchten Winkel des Neunecks

φ = 2β = 2 arctan((√35 - 3√3)/2)  39,5941° 

Das ist gegenüber dem korrekten Winkel von  40° eine Abweichung von ca.  1% . Wenn man diesen Winkel neun Mal auf dem Kreis abträgt, fehlen am Ende ca. 3,65°. Die Dürer-Konstruktion ergibt also keine besonders gute Näherung.


Aufgabe 2
Eves hat  r2 = 3·r1  gewählt. Wie exakt sind dann die beiden Konstruktionen? Hier wird wieder nach der genauen Größe des Winkels  φ  gefragt.

Bild 4 enthält den Ansatz für die Winkelberechnung.

Beweis

Bild 4

Bild 4 beruht auf der linken Skizze von Bild 3. Wir wollen zunächst den Winkel  α  im Dreieck  Δ MCD  berechnen. Dazu halbieren wir die Seite  MD . MF  hat dann die Länge  r1/2 .  Δ MCF  ist ein rechtwinkliges Dreieck mit  cos α = (r1/2)/r2 . Also gilt:

(1)    α = arccos(r1/(2r2))

a) Konstruktion von  φ  mit  ∠AMD  (mittlere Skizze in Bild 3)

(2)    φ = 2∠AMD = 2(α-60°) = 2 arccos(r1/(2r2))-120°

Mit  r2 = 3·r1  ergibt sich  φ = 2 arccos(1/6) - 120°  40,8119°.

Das ist ein noch schlechteres Ergebnis als das von Dürer. Die Abweichung gegenüber dem korrekten Winkel von  40° beträgt ca.  2% . Wenn man diesen Winkel neun Mal auf dem Kreis abträgt, hat man am Ende ca. 7,3° mehr als der Vollkreis.

b) Konstruktion von  φ  mit  ∠EMD  (rechte Skizze in Bild 3)

(3)    φ = (1/2)∠EMD = (1/2)∠CMD = α/2 = (1/2) arccos(r1/(2r2))

Mit  r2 = 3·r1  ergibt sich  φ = (1/2) arccos(1/6)  40,2030°.

Das ist das beste der bisherigen drei Ergebnisse. Die Abweichung gegenüber dem korrekten Winkel von  40° beträgt ca.  0,5% . Wenn man diesen Winkel neun Mal auf dem Kreis abträgt, hat man am Ende ca. 1,8° mehr als der Vollkreis.


Aufgabe 3
Die Güte der Näherung lässt sich verbessern, wenn man in  r2 = a·r1  für  a  einen anderen Faktor als  3  wählt. Was wäre der optimale Faktor  a ?  a·r1  muss aber mit Zirkel und Lineal konstruierbar sein.
In Problem # 87 wurde gezeigt, wie man dafür eine Kettenbruchentwicklung einsetzen kann.

Für eine exakte Konstruktion des  40°-Winkels müsste  α  in Bild 4  80° betragen. Dann würden beide Konstruktionen a) und b) aus Aufgabe 2  φ = 40° ergeben. Aus (1) ergibt sich dann für den optimalen Faktor  a :

a = r2/r1 = (2 cos 80°)-1 ≈ 2,879385 

Auf die reelle Zahl  2,879385... wenden wir das Kettenbruchverfahren aus Problem # 87 an und erhalten als Näherungen dieser Zahl die gegen  a  konvergente rationale Zahlenfolge

2, 3, 23/8, 72/25, 167/58, ...

      In Mathematica erhält man beispielsweise den dritten Bruch  23/8  mit
      FromContinuedFraction[ContinuedFraction[2.879385, 3]].

Mit  a = r2/r1  erhalten wir  α = arccos(1/(2a)). α  wird dann in (2) bzw. (3) eingesetzt; wir erhalten also

φ = 2 arccos(1/(2a)) - 120°   in (2)
φ = (1/2)arccos(1/(2a))   in (3)

Es folgt eine Tabelle, die alle Ergebnisse zusammenfasst. Für  a  wurden die beiden ersten Brüche aus der Kettenbruchentwicklung genommen, also  23/8  und  72/25 . Für die Konstruktion von  r2 = (23/8)r1  muss man dreimal eine Strecke halbieren, um  r1/8  zu erzeugen;  r1/8  muss dann  23-mal abgetragen werden (oder man vermindert für den Faktor  23/8  die dreifache Strecke um ein Achtel). Das ist schon mühsam genug, erscheint aber noch machbar.  a = 72/25  erfordert zweimal die Fünfteilung einer Strecke, um  r1/25  zu erzeugen; diese Strecke muss dann  72-mal abgetragen werden. Das wird man allein schon deshalb nicht tun (und erst recht nicht die weiteren Brüche wie  167/58  für  a  verwenden), da aus der Tabelle ersichtlich ist, dass bereits  23/8  eine hervorragende Näherung von  φ  39,9923° ergibt.

  a φ Abweichung
Dürer   39,5941° - 1 %
Eves (a) 3 40,8119° + 2 %
  23/8 39,9692° - 0,08 %
  72/25 40,0043° + 0,01 %
Eves (b) 3 40,2030° + 0,5 %
  23/8 39,9923° - 0,02 %
  72/25 40,0011° + 0,003 %



Publiziert 2018-03-30          Stand 2015-11-28


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