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2022-07-18


Sonnenuhren Teil 3

Die Ringsonnenuhr Aquitaine
Aquitaine Kommentare sind willkommen.


Das Original der Aquitaine wurde im Jahr 1152 angefertigt. Die Miniatur-Sonnenuhr war ein Geschenk von Aliénor d'Aquitaine an ihren Gemahl Henri Plantagenêt, den späteren englischen König Henry II. Die beiden sind im deutschen Sprachraum bekannt als Eleonore von Aquitanien und Heinrich II.

Die Ringsonnenuhr misst ca. 3,5 cm im Durchmesser und kann leicht in der Tasche oder an einer Halskette mitgeführt werden. Das Startbild zeigt die Gravuren: Außen stehen die Monate, innen die Uhrzeiten.

Die Zeitanzeige erfolgt durch einen Lichtpunkt auf dem inneren Zeitraster; er wird erzeugt durch die Sonnenstrahlen, die durch ein kleines Loch auf der gegenüberliegenden Seite fallen, siehe Bild 1. Die Uhr muss dabei senkrecht hängen; dafür hat sie eine Öse, durch die eine Kette oder eine Kordel geführt werden kann.

Loch Aquitaine LichtstrahlCarpe diem

Bild 1

Links:  Monatseinstellung, scheinbar auf der Grenze  September/Oktober (oben) bzw. März/April (unten), tatsächlich eingestellt auf die Äquinoktien

Mitte:  Monatseinstellung  Mitte Februar  bzw. Anfang November (unten, nicht sichtbar)

    Entsprechend der Jahreszeit wird die Uhrzeit auf dem Raster zwischen der oberen Linie (Winter) und der mittleren Linie (Äquinoktien) abgelesen.

    Angezeigt wird ca. 08:50 Uhr  bzw. 15:10 Uhr .

Rechts:  Blick auf die Lichtöffnung von innen. Sie lässt sich innerhalb des Schlitzes bewegen, zwischen den Worten Carpe diem (Nutze den Tag).


Die Ringsonnenuhr ist handwerklich meisterhaft gestaltet. Der feste äußere Ring umfasst an seiner Außenseite einen drehbaren inneren Ring mit dem kleinen Loch für die Sonnenstrahlen; dieser wird durch einen Knauf bewegt, der dem Loch gegenüberliegt. Bild 1 gibt einen Eindruck von der Leistung des mittelalterlichen Kunstschmieds.

Will man die Funktion dieser Ringsonnenuhr verstehen, so stellt sich zunächst die Frage, für welchen Breitengrad sie gedacht war. Das lässt sich herausfinden, wenn man einen gedachten Lichtstrahl von der  12:00-Markierung durch das Loch führt, das auf die Äquinoktien eingestellt ist. Der zugehörige Winkel für den Sonnenstand ist dann gleich  90°- Breitengrad .

Die Einstellung auf die Äquinoktien zeigt eine Besonderheit der Uhr. Denn die Monatseinteilung scheint klar und einfach zu sein, ist es aber nicht. Auf den ersten Blick würde man annehmen, dass die senkrechten Striche zwischen den Monaten Monatsende- und anfang bezeichnen. Das kann aber nicht stimmen. Denn die Einstellung der Lichtöffnung muss an den beiden Äquinoktien identisch sein. Links in Bild 1 sieht man ganz deutlich, dass der Herbstanfang (im  September, obere Monate) und der Frühlingsanfang (im  März, untere Monate) nicht übereinander liegen, falls die Striche die Monate genau trennen. Dafür gibt es nur eine sinnvolle Erklärung: Die senkrechten Striche stehen für ca. den  20.-23. des früheren der beiden angrenzenden Monate. Für diese Erkenntnis haben wir hier die Äquinoktien herangezogen, aber man kann das natürlich auch bei den anderen Monaten sehen: Würden die Striche die Monate genau trennen, so müsste der Sonnenstand z.B. am  15. Dezember  und am  15. Januar  übereinstimmen, was aber nicht der Fall ist.

Im Jahr 1152 gab es den Gregorianischen Kalender noch nicht. Im seinerzeit verwendeten Julianischen Kalender waren die Jahre durchschnittlich etwas zu lang. Das führte zu einer allmählichen Verschiebung der Äquinoktien im Kalender. 1152 lag der Frühlingsanfang schätzungsweise auf dem  14. März.  Das bedeutet, dass die Striche in der Monatseinteilung damals sogar ungefähr für die Monatsmitten standen.

Bedienung der Aquitaine :  Datumsablesung
  • Da die Monate nur schmale Fenster auf dem Rand der Uhr einnehmen, ist keine hohe Genauigkeit bei der Datumsablesung möglich.

  • Jeder senkrechte Strich zwischen den Monatsbuchstaben steht nicht für Monatsende und -anfang, sondern ca. für den  20. bis 23. des früheren Monats .

  • Die Endpunkte für die Datumsablesung markieren also Winter- und Sommeranfang, gut erkennbar in Bild 1 links.


Nun zur Bestimmung des Breitengrads, für den die Ringsonnenuhr angefertigt wurde. Dazu werden einzelne Punkte auf der Uhr vermessen. In Bild 2 hängt die Uhr senkrecht, in ihrer korrekten Position. Die grünen Winkelangaben in der linken Graphik sind die Mittelpunktswinkel zum Fußpunkt.

In der rechten Graphik ist die Horizontlinie unten in Grün eingezeichnet, um die Einfallswinkel der Sonnenstrahlen messen zu können. Die Strahlen treffen zu den verschiedenen Jahreszeiten mittags die  12:00-Uhr-Markierung und wurden hier bis zur Horizontlinie verlängert. Für die Äquinoktien wird ein Einfallswinkel von ca. 42,25° gemessen; das entspricht einer geographischen Breite von ca. 47,75°. Die Winkel zu Sommer- und Winteranfang zeigen, dass die Neigung der Erdachse im Jahr 1152 größer als heute war, nämlich ca. 23,58°. Alle hier angegebenen Winkelmessungen weisen einen kleinen Spielraum auf  –  die Uhr ist kein Präzisionsmessgerät, sondern ein Miniatur-Handwerksstück.

Die geographische Breite  47,75° hat eine hohe historische Plausibilität. Henri Plantagenêt war Graf von Anjou in seiner Heimat im Westen Frankreichs. Dort, und nicht etwa in England, hielt er sich die meiste Zeit seines Lebens auf. Eleonore schenkte ihm die Ringsonnenuhr zur Verwendung bei der Jagd. Zu all dem passt die angegebene Breite perfekt  –  eine Spannbreite von ca. ± 0,5° wird man allerdings wohl zugestehen müssen.

12 Uhr 3 Jahreszeiten
Bild 2

Links:  Die Punkte geben an, wo der Kunstschmied die Markierungen gesetzt hat.

Rechts:  Einfallswinkel der Sonnenstrahlen durch die verschiebbare Lichtöffnung zu verschiedenen Daten, jeweils um  12:00 Uhr.



Bedienung der Aquitaine :  Breitengrad
  • Die Uhr ist für ca. 47,75° nördlicher Breite angefertigt worden.

  • Da nur eine grobe Ablesung der Uhrzeit möglich ist, kann man die Uhr sicherlich auch etwas nördlich oder südlich dieses Breitengrads benutzen, schätzungsweise bis zu  ±   –  also etwa in Deutschland südlich des Mains, in der Schweiz, in Österreich und in Südtirol.

  • Die Monatsmarkierungen beruhen auf einer Neigung der Erdachse von  23,58°. Der Unterschied zum heutigen Wert von  23,44° dürfte für praktische Zwecke nicht ins Gewicht fallen.


In der Mitte von Bild 1 sieht man, dass die Anzeige der Uhrzeit von der Jahreszeit abhängt. Die Linie am unteren Rand steht für den Sommeranfang und gibt die Uhrzeiten von  04:00 Uhr (unterer Rand) bis  20:00 Uhr (oberer Rand) an. Die mittlere Linie steht für die Äquinoktien und gibt die Uhrzeiten von  06:00 Uhr  bis  18:00 Uhr  an. Die obere Linie steht für den Winteranfang und gibt die Zeiten von  08:00 Uhr  bis  16:00 Uhr  an. Die schrägen Striche in dem Zeitraster dienen zur Interpolation im Laufe der Jahreszeiten  –  das wurde beispielhaft in Bild 2 für   Mitte Februar  um  08:50 Uhr  oder  15:10 Uhr  eingezeichnet.

Zur Überprüfung der Uhrzeit-Gravur schauen wir uns in Bild 3 die  08:00-Uhr-Anzeige auf den drei Linien an, und in Bild 4 alle Anzeigen in  2-Stunden-Abständen.

8 Uhr 3 Jahreszeiten
Bild 3

Einfallswinkel der Sonnenstrahlen durch die verschiebbare Lichtöffnung zu verschiedenen Daten, jeweils um  08:00 Uhr.

"unten/Mitte/oben" bezieht sich auf die Uhrzeit-Linien der inneren Gravur, siehe Bild 1 Mitte.

Die Winkelberechnungen wurden mit der Formel (21) in der Geo-astronomischen Formelsammlung auf dieser Website durchgeführt.




3 Jahreszeiten
Bild 4

Einfallswinkel der Sonnenstrahlen durch die verschiebbare Lichtöffnung zu verschiedenen Daten in  2-Stunden-Abständen.

Die Winkelberechnungen wurden mit der Formel (21) in der Geo-astronomischen Formelsammlung auf dieser Website durchgeführt.



Bedienung der Aquitaine :  Ablesung der Uhrzeit
  • Die Linie am unteren Rand der inneren Gravur steht für den Sommeranfang, die mittlere für die Äquinoktien und die obere für den Winteranfang. Die schrägen Striche in dem Zeitraster dienen zur Interpolation im Laufe der Jahreszeiten.

  • Der Vergleich der Skizzen in den Bildern 3 und 4 mit der inneren Gravur der Ringsonnenuhr ergibt eine recht gute, aber keine völlig überzeugende Übereinstimmung.

  • Man sieht in Bild 4 deutlich eine Spreizung der  2-Stunden-Intervalle. Diese ist zwar auch in Bild 1 erkennbar, aber sie scheint nicht ganz harmonisch zu sein. Insbesondere ist wohl das Intervall zwischen  11:00 Uhr  und  12:00 Uhr  auf der Sommeranfangslinie etwas zu groß geraten.

  • Ablesungen in der Natur zeigen, dass man datums- und zeitabhängig eine maximale Ungenauigkeit von ca. ± 15' hinnehmen muss.

  • Insgesamt kann man aber von einer befriedigenden Funktion der Aquitaine sprechen, insbesondere wenn man die schwierige Herstellung in Rechnung stellt.


Liebhaber von Sonnenuhren werden die nun folgenden Ausführungen natürlich kennen. Aber der Vollständigkeit halber soll die Umrechnung von der wahren lokalen Sonnenzeit, die von der Aquitaine angezeigt wird, auf die bürgerliche Zeit angegeben werden:


Bedienung der Aquitaine :  Umrechnung von Sonnenzeit auf bürgerliche Zeit
  • Korrektur der abgelesenen Zeit mit der Zeitgleichung zur Ermittlung der mittleren lokalen Sonnenzeit.

  • Längengradkorrektur (also muss die geographische Länge genau ermittelt werden; außerdem diejenige geographische Länge, die der bürgerlichen Zeit zu Grunde liegt, z.B. in Deutschland im Winter  15° Ost  für  MEZ ;  die Differenz macht in Ost-West-Richtung  4 Minuten  pro Längengrad aus).

  • Ggfs. eine Korrektur von einer Stunde, falls die Sommerzeit gilt.

  • Beispiel: Wir richten die Ringsonnenuhr Aquitaine im Kanton Schaffhausen bei  47,75° Nord  und  8,5° Ost  am  20. September  auf die Sonne. Die Zeitgleichung beträgt an diesem Datum  +7',  die Sonne geht also  7  Minuten gegenüber der mittleren Zeit vor. Die Sonnenuhr zeigt  9:30 Uhr  an:

      09:30 Uhr  wahre lokale Sonnenzeit
    = 09:23 Uhr  mittlere lokale Sonnenzeit
    = 09:49 Uhr MEZ  (denn  MEZ  bezieht sich auf  15° Ost; die Differenz von  6,5° entspricht  26')
    = 10:49 Uhr  Sommerzeit, also aktuelle bürgerliche Zeit



Kategorie: Geomathematik                    Kommentare sind willkommen.



Stand 2021-11-29


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