Manfred Börgens
Mathematik auf Briefmarken  # 130
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Eduard Douwes Dekker  alias  Multatuli (1820 - 1887)

Diese Briefmarkenseite hat sich seit ihrer Einführung im Oktober 2000 von Zeit zu Zeit den Randgebieten und den Randfiguren der Mathematik gewidmet. So ist es auch in diesem Beitrag: Douwes Dekker war Schriftsteller und Amateurmathematiker. Ein Beweis des Satzes von Pythagoras ist nach ihm benannt.

Eduard Douwes Dekker war ein niederländischer Schriftsteller. Bekannt wurde er unter dem Pseudonym Multatuli. Von 1839 bis 1857 arbeitete er, mit einigen Zwischenaufenthalten in Europa, in der Kolonialverwaltung von Niederländisch-Indien (heute Indonesien). Er wurde dort zum Kritiker von Skandalen, Missbrauch und Verbrechen im Kolonialsystem. Seine Anklagen publizierte er in Zeitungen, Streitschriften und Büchern. Besonderen Erfolg, auch international, hatte dabei sein Buch Max Havelaar; es wird oben auf der mittleren Marke genannt.

Seit 1866 lebte Douwes Dekker in Deutschland, zeitweise in Wiesbaden, später bis zu seinem Tod in einem Haus im Osten von Ingelheim an der Chaussee nach Mainz.

Sein Biograph Chris van de Ven beschreibt Eduard Douwes Dekker als sehr vielseitig interessierten Menschen, insbesondere als "guten Schachspieler und kompetent in Mathematik" [8].

Den Pythagoras-Beweis findet man im Buch Ideen [4, 5]. Hier ist er:

Pythagoras-Beweis

Bild 1

Dies ist die besondere Qualität der Multatuli-Konstruktion: Sie ist ein "Beweis ohne Worte". Denn hier muss man nichts ausrechnen;  a2 + b2 = c2  wird direkt durch Bild 1 klar.  –  Einen weiteren Pythagoras-Beweis findet man bei Briefmarke # 68.

Man beachte, dass ein sehr bekannter Beweis des Satzes von Pythagoras nur mit dem Quadrat  HJKL  geführt werden kann, aber eben nur unter Zuhilfenahme der ersten binomischen Formel. Dieser sicherlich sehr elegante Beweis ist also nicht "ohne Worte".

Fünf Jahre nach der Veröffentlichung schreibt Multatuli, dass ihm bis zu diesem Zeitpunkt niemand diese Entdeckung streitig gemacht habe [1, 5]. Er war stolz auf seinen Beweis und ließ ihn in seinen Siegelring gravieren [1].

War der Beweis schon vorher bekannt? Klaas Lakeman hat tief recherchiert; demnach hat Douwes Dekker ein Recht auf Urheberschaft [2]. Auch in neuester Zeit wird Multatuli als Entdecker angeführt, z.B. auf der Pythagoras-Seite der Website  Mathematik alpha [3].


Wer sich mit den Schriften von Multatuli beschäftigt, stößt auf ein weiteres mathematisches Problem, auf das er 1886 in seiner Korrespondenz mit Roorda van Eysinga aufmerksam gemacht hat und das er (aus gutem Grund) nicht selbst lösen konnte: Die Konstruktion (mit Zirkel und Lineal) eines rechtwinkligen Dreiecks aus den Längen der Winkelhalbierenden der spitzen Winkel; siehe linke Hälfte von Bild 2. Das ist ein etwas entlegenes geometrisches Problem  –  Douwes Dekker hat sich nach eigener Aussage intensiv damit beschäftigt ("... dit prikkelt mij ...") [7].

Dreieck

Bild 2   In der Graphik ganz rechts sieht man, wie aus \(~\alpha~\) und \(~d_1~\) durch Lotfällung das komplette Dreieck entsteht.

Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass die Lösung des Problems (bzw. die Unmöglichkeit der Konstruktion) die mathematischen Fähigkeiten von Amateuren (wie Multatuli) wohl in der Regel übersteigt.

O. Bottema schreibt in [1], dass dieses Problem im Allgemeinen nicht mit Zirkel und Lineal lösbar ist. Sein Beweis ist allerdings stellenweise fehlerhaft und lückenhaft. Sein (hier ergänzter und korrigierter) Gedankengang führt auf eine Gleichung 3. Grades in \(~\text{tan}~\alpha/2~\).

Es reicht aus, den Winkel \(~\alpha~\) zu bestimmen. Das wird in der rechten Hälfte von Bild 2 gezeigt: Vom oberen Endpunkt von \(~d_1~\) fällt man das Lot und erhält die Seite \(~b~\);  daraus ergeben sich \(~a,~c~\) und \(~\beta~\). \[\textbf{(1)}~~~a = c\cdot \text{sin}~\alpha\] \[\textbf{(2)}~~~b = c\cdot \text{cos}~\alpha\] \[\textbf{(3)}~~~d_1 = \frac{b}{\text{cos}~\frac{\alpha}{2}}\] \[\textbf{(4)}~~~d_2 = \frac{a}{\text{cos}~\frac{\beta}{2}} = \frac{a}{\text{cos}\left(\frac{\pi}{4}-\frac{\alpha}{2}\right)}\] Wir setzen: \[\textbf{(5)}~~~p = \frac{d_1}{d_2}\] Dann ist nach (1) - (4): \[p = \frac{\text{cos}~\alpha \cdot \text{cos}\left(\frac{\pi}{4}-\frac{\alpha}{2}\right)}{\text{sin}~\alpha \cdot \text{cos}~\frac{\alpha}{2}}\] \[\textbf{(6)}~~~p\cdot \text{tan}~\alpha \cdot \text{cos}~\frac{\alpha}{2} = \text{cos}\left(\frac{\pi}{4}-\frac{\alpha}{2}\right)\] Wir setzen \[\textbf{(7)}~~~u = \text{tan}~\frac{\alpha}{2}~\in~(0,1)\] Mit der Bestimmung von \(~u~\) wäre also eine Lösung des Problems gegeben. Um \(~u~\) in (6) einzuführen, benötigen wir die Umformungen (8) - (10): \[\textbf{(8)}~~~\text{tan}~\alpha = \frac{2~u}{1-u^2}\] \[\textbf{(9)}~~~\text{cos}~\frac{\alpha}{2} = \frac{1}{\sqrt{1+u^2}}\] \[\textbf{(10)}~~~\text{cos}\left(\frac{\pi}{4}-\frac{\alpha}{2}\right)~=~\sqrt{\frac{1+\text{cos}\left(\frac{\pi}{2}-\alpha\right)}{2}}~=~\sqrt{\frac{1+\text{sin}~\alpha}{2}}~=~\sqrt{\frac{1}{2} + \frac{u}{1+u^2}}~=~\frac{1+u}{\sqrt{2~(1+u^2)}}\] Einsetzen von (8) - (10)  in  (6): \[\textbf{(11)}~~~q\cdot u = (1-u^2)\cdot (1+u)~~~~\text{mit}~~~~q = 2\cdot \sqrt{2}\cdot p > 0\]


Graphen
Bild 3

\(f(u)\) in Bild 3 hat das lokale Minimum mit Nullstelle bei \(~u=-1~\),  das lokale Maximum im 1. Quadranten bei \(~u=1/3~\) und eine Nullstelle bei \(~u=1~\).  Einen Schnittpunkt von \(~f~\) und \(~g~\) gibt es also nur um 1. Quadranten und für \(~u \in (0,1)\).  Da \(~f~\) den Wendepunkt bei \(~u=-1/3~\) hat, ist \(~f~\) in \(~(0,1)~\) konkav; daher ist der Schnittpunkt eindeutig. (11) hat also eine eindeutige Lösung \(~u_o \in (0,1)\).

Analytische Lösung

Die Längen der Winkelhalbierenden \(~d_{1,~2}~\) sind gegeben. Man bestimmt die eindeutige reelle Lösung \(~u_o~\) der Polynomgleichung (11) mit \(~q = 2\cdot \sqrt{2}\cdot d_1/d_2~\): \[\textbf{(12)}~~~u_o~=~\frac{1}{3}\left(\frac{h}{\sqrt[3~~]{2}} - 1 - \sqrt[3~~]{2} \cdot \frac{3q-4}{h}\right)~~~\text{mit}~~~h =~\sqrt[3~~]{9~q+16+\sqrt{27~(4~q^3-13~q^2+32~q)}}\] Da \(~u_o \in (0,1)\),  erhalten wir mit (7) \(~\alpha = 2~\text{arctan}~u_o~\) und nach (3), (4): \[a = d_2~\text{cos}\left(\frac{\pi}{4}-\frac{\alpha}{2}\right)~~~~~~~b = d_1~\text{cos}~\frac{\alpha}{2}\] Dies reicht aus, um alle Teile des Dreiecks zu berechnen, d.h. zur analytischen Konstruktion des Dreiecks.

Beispiel 1 \[d_1=12~~~~d_2=16~~~~\rightarrow~~~~q~\approx~2,1213~~~~\rightarrow~~~~u_o~\approx~0,5220\] \[\alpha~\approx~55,13°~~~~~~~a~\approx~15,2648~~~~~~~b~\approx~10,6380\]
Wir wissen nicht, ob Douwes Dekker die analytische Lösung (12) gefunden hat. Ihn interessierte vor allem die Konstruierbarkeit mit Zirkel und Lineal, im Folgenden kurz "Konstruierbarkeit" genannt. (12) sieht nicht danach aus, eine konstruierbare Lösung zu sein, wegen der Kubikwurzeln. Andererseits ist (12) so kompliziert, dass sie einfache Lösungen verschleiern könnte. Wir verlassen an dieser Stelle die Ausführungen in Bottema [1]; Aufklärung gibt der folgende Kasten.

Konstruierbarkeit von \(~u_o\)

Der entscheidende Schritt ist die Umkehrung von (12); wir schreiben jetzt \(~q~\) als Funktion von \(~u_o~\): \[\textbf{(13)}~~~q=h(u_o)=\frac{1}{u_o}-u_o^2-u_o+1\] (13) folgt direkt aus (11). \(~h~\) ist eine bijektive, streng monoton fallende Funktion mit \(~h:(0,1)\rightarrow \textbf{R}^+\),  siehe auch Bild 3.

Folglich gibt es zu jedem konstruierbaren und zu jedem nicht-konstruierbaren \(~u_o~\) genau ein passendes \(~q~\). Beide Teilmengen von \((0,1)\) haben unendlich viele Elemente; die Teilmenge der konstruierbaren Zahlen ist abzählbar, also wesentlich "dünner". Es folgt:

Im Allgemeinen führt die Festlegung der Winkelhalbierenden \(~d_{1,~2}~\) auf ein nicht-konstruierbares \(~u_o~\).
Die Konstruierbarkeit von \(~u_o~\) ist äquivalent zur Konstruierbarkeit des Dreiecks

Ist \(~u_o=\text{tan}~\alpha/2~\) konstruierbar, so auch der Winkel \(~\alpha/2~\) (siehe Bild 4) und damit der Winkel \(~\alpha~\).

u_o und alpha

Bild 4   Konstruktion von \(~\alpha/2~\) aus \(~u_o~\) und umgekehrt

Das genügt bereits zur Konstruktion des Dreiecks ABC in Bild 2.

Zur Umkehrung: Ist das Dreieck konstruierbar, so auch insbesondere der Winkel \(~\alpha/2~\),  und damit \(~u_o~\) (Bild 4).
Aber ...

Von einer Konstruktion mit Zirkel und Lineal mittels \(~d_{1,~2}~\) kann keine Rede sein!

Bisher wurde lediglich gezeigt, dass eine konstruierbare Zahl \(~u_o~\) die Konstruktion des Dreiecks erlaubt. Aber wir konnten \(~u_o~\) nicht aus \(~d_{1,~2}~\) geometrisch konstruieren, sondern mussten erst \(~u_o~\) mittels (12) berechnen und feststellen, ob \(~u_o~\) konstruierbar ist.

Bild 5 verdeutlicht diesen Sachverhalt. Wenn man den orangenen Text fortlassen könnte, würde die Graphik eine Dreieckskonstruktion mit Zirkel und Lineal zeigen.

Konstruktion

Bild 5

Wir haben es hier also mit einer geometrischen Aufgabe zu tun, deren Lösung man "konstruktiv" nennen kann, wenn ein arithmetischer Zwischenschritt erlaubt ist und falls dieser Zwischenschritt eine konstruierbare Zahl erzeugt.

Beispiel 2

(13) ermöglicht es, beliebig viele Beispiele für "konstruierbare" Dreiecke zu finden (siehe "Aber ..." im vorstehenden Kasten); hier ist eines: \[u_o=\frac{1}{2}~~~~\Leftrightarrow~~~~q=\frac{9}{4}~~~~\Leftrightarrow~~~~\frac{d_1}{d_2}=p=\frac{9}{8\cdot \sqrt{2}}\] \[d_1=9~~~~~~~d_2=8\cdot \sqrt{2}~\approx~11,3137\] \[\alpha~\approx~53,13°~~~~~~~a~\approx~10,7331~~~~~~~b~\approx~8,0498\]
In [1] findet man Literaturangaben zur Dreieckskonstruktion aus allen drei Winkelhalbierenden; dort wird gezeigt, dass diese Konstruktion (in beliebigen Dreiecken) nicht möglich ist.


Es ist noch eine dritte Verbindung von Eduard Douwes Dekker zur Mathematik bekannt. Er war zeitweise ein leidenschaftlicher Spieler. In der Wiesbadenener Spielbank hat er ein Spielsystem für Roulette angewandt, das ihm aber auf Dauer kein Glück brachte. Als mathematisch beschlagener Mann hätte er sich das denken können. Später hat er offenbar intensiver darüber nachgedacht und in seinem Werk  Millioenen-studiën [6] sehr ausführlich mathematisch dargelegt, warum solche Systeme langfristig nicht nur keinen Gewinn bringen, sondern in den Ruin führen können.



Quellen

[1]  Bottema, Oene:  Een meetkundig vraagstuk van Multatuli,  in: Euclides  38 (1962-63), S. 79-82
          Deutsche Übersetzung:  Eine geometrische Fragestellung von Multatuli

[2]  Lakeman, Klaas:  Multatuli en de stelling van Pythagoras,  in: Pythagoras  27/1 (2/1988), S. 1-3
          Deutsche Übersetzung:  Multatuli und der Satz des Pythagoras

[3]  Mathematik alpha (Website):  Pythagoras-Beweise
          Der Multatuli-Beweis steht unter # 23.

[4]  Multatuli:  Ideeën  (1867)
          Deutsche Übersetzung:  Ideen
          Pythagoras-Beweis als Eintrag # 529
          siehe auch [5]

[5]  Multatuli / Maartensz, Maarten:  Kommentierter Eintrag # 529 der Ideeën
          siehe [4]

[6]  Multatuli:  Millioenen-studiën,  in: Het Noorden (Zeitung) 1870-73
          Deutsche Übersetzung  Millionen-Studien  im  Projekt Gutenberg

[7]  Multatuli:  Briefwisseling tusschen Multatuli en S. E. W. Roorda van Eysinga,  Hrsg.: Maria Douwes Dekker 1907
          Der Brief mit dem Problem der Winkelhalbierenden ist datiert vom 22.8.1886 und steht auf S. 364.

[8]  van de Ven, Chris:  Multatuli verknipt  (2020)
          Deutsche Übersetzung:  Multatuli zerschnitten
          Ein Multatuli-"Portrait". Zitat zu Schach und Mathematik auf S. 159. Zitat zum Pythagoras-Beweis auf S. 167 - 169.


Kategorie: Beweise ohne Worte


Publiziert 2025-01-21          Stand 2023-11-23


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