Manfred Börgens
Mathematik auf Briefmarken  # 50
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Seit Oktober 2000 ist die "Briefmarke des Monats" auf meiner Homepage erschienen. Diese ist die 50. und letzte Ausgabe dieser Seite. Ich werde aber weiterhin Briefmarken mit Bezug zur Mathematik kommentieren, jedoch nicht mehr im Abstand von einem Monat. Aus der Reihe "Briefmarke des Monats" wird die Reihe "Mathematik auf Briefmarken", die in größeren und unregelmäßigen Intervallen erscheinen wird.

Briefmarken des Monats März 2005

2 Marken: Euklid in Schule von Athen + 1. Buch Elemente

Vatikan 1986 und Polen 1971
Michel 898 und Anhang zu 2089
Scott 778 und Anhang zu 1819



Euklid (ca. 365 - ca. 300 v. Chr. oder etwas später) und die Elemente

Die linke Briefmarke zeigt Euklid im Kreise seiner Schülerinnen und Schüler, sich hinabbeugend zu einer Tafel, mit einem Zirkel in der Hand. Die rechte Marke zeigt eine Handschrift aus dem 15. Jahrhundert mit dem Anfang des 1. Buchs der Elemente. Beide Marken werden weiter unten noch erläutert.

Euklid von Alexandria hat nur wenige gesicherte biographische Spuren hinterlassen. Wir wissen nicht, wo er geboren wurde. Seine mathematischen Studien hat er an der Athener Akademie bei Platon absolviert. Er lebte und lehrte in Alexandria (Ägypten), einer griechischen Kolonie.

Euklid ist einer der bekanntesten Mathematiker aller Zeiten, vor allem als Autor der Elemente. Dieses Grundlagenwerk fasste den größten Teil der Mathematik zusammen, soweit sie in der griechischen Welt des 4. vorchristlichen Jahrhunderts bekannt war. Die Erkenntnisse der Elemente sind überwiegend nicht von Euklid selbst gefunden worden, aber seine präzise und geordnete Darstellung machte ihn zum führenden Lehrer der Mathematik in der Antike und darüber hinaus.

Euklid war ein Pionier der axiomatischen Methode. Auf nicht zu beweisenden Grundsätzen (Axiomen und Postulaten) baute er in den Elementen durch logische Schlüsse das Gebäude der Geometrie auf.

Die Elemente bestehen aus 13 Büchern. Die Bücher 1 - 6 behandeln die ebene Geometrie, die Bücher 7 - 9 die Zahlentheorie; Buch 10 enthält die Theorie der irrationalen Zahlen; die Bücher 11 - 13 behandeln die räumliche Geometrie.

Den Elementen verdanken wir viele grundlegende Lehrsätze und mathematische Techniken. Dazu gehört in erster Linie die Elementargeometrie, wie sie bis heute in unseren Schulen gelehrt wird. Der Euklidische Algorithmus zur Auffindung des größten gemeinsamen Teilers zweier natürlicher Zahlen gehört zu den Grundlagen der Zahlentheorie, ebenso wie Euklids Beweis, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. In den Elementen findet sich auch der Nachweis der Irrationalität der Quadratwurzel von 2. Im letzten Band der Elemente behandelt Euklid die Platonischen Körper und zeigt, dass es genau fünf davon gibt.

Euklid schrieb noch mehrere andere Bücher, die aber zu einem großen Teil nicht erhalten sind, u.a. über Perspektive und Astronomie.


Nun zu der ersten der oben dargestellten Briefmarken.
Die Marke aus dem Vatikan zeigt einen stark nachbearbeiteten Ausschnitt des Gemäldes "Die Schule von Athen" von Raffael (1483 - 1520). Dieses Fresko malte er 1510 an eine Wand der Stanza della Segnatura im Vatikan (die "Stanzen" (ital. stanza : Zimmer) sind die päpstlichen Gemächer). Auf diesem Bild vereint Raffael die meisten bedeutenden griechischen Philosophen, Wissenschaftler und Autoren, außerdem einige Nicht-Griechen. Das folgende Bild zeigt eine Gesamtansicht des Freskos:

Raffael-Gemaelde: Schule von Athen

Es gibt zahlreiche Webseiten zur "Schule von Athen"; z.B. kann man hier nachschauen, wer alles auf dem Bild zu sehen ist. Auf die Mathematiker und Logiker wird in der folgenden Schemazeichnung mit Nummern hingewiesen:
(Quelle: Philipp Wollenhaupt)

Raffael-Gemaelde schematisch mit Nrn.

           1 Platon   2 Aristoteles   3 Euklid   4 Ptolemäus   5 Pythagoras   6 Averroes   7 Zenon von Kition

Auf der Briefmarke ist außer dem gebückten Euklid auch Ptolemäus zu sehen; er hält eine Weltkugel in der Hand und wendet uns den Rücken zu.
Raffael hat sich selbst auf dem Fresko verewigt (Nr. 8).

Auf der Marke wird nicht deutlich, dass Euklid mit einem Zirkel eine Strecke in einer geometrischen Skizze auf einer Tafel abgreift; dies sieht man in einer starken Vergrößerung des Raffael-Gemäldes:

Raffael-Gemaelde: Schule von Athen, Ausschnitt mit Euklid



Nun zur zweiten Briefmarke.
Das abgebildete Manuskript ist der Anfang der Elemente in lateinischer Sprache. Es steht auf einem Anhang zu einer polnischen Briefmarke, die das Collegium Maius der Universität Krakau zeigt; beide Teile sieht man auf dem folgenden Bild:

Marke mit Uni Krakau und Anhang (Elemente)

Unter dem Euklid-Text steht eine Erklärung in Polnisch, die übersetzt lautet:

EUKLIDISCHE GEOMETRIE
ABGESCHRIEBEN IN KRAKAU
IM JAHR 1444
LEHRBUCH VON N. KOPERNIKUS


Kopernikus' Vorname Nikolaus heißt im Polnischen "Mikolaj" und ist deshalb auf der Marke mit "M." abgekürzt.

Das Euklid-Manuskript ist nicht leicht zu lesen. Man erkennt den Anfang des 1. Buchs der Elemente in lateinischer Übersetzung:
Punctus est cuius pars non est.
(Ein Punkt ist etwas, von dem es keinen Teil gibt.)


Entziffert man das auf der Marke gezeigte Manuskript vollständig, so fällt auf, dass es mit den heutzutage benutzten Übersetzungen der Elemente nur in groben Zügen zusammenpasst. Recht bekannt ist z.B. die deutsche Fassung, die von C. Thaer direkt aus der griechischen Urfassung übersetzt wurde:

1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat,
2. eine Linie breitenlose Länge.
3. Die Enden einer Linie sind Punkte.
4. Eine gerade Linie (Strecke) ist eine solche, die zu den Punkten auf ihr gleichmäßig liegt.
5. Eine Fläche ist, was nur Länge und Breite hat.
6. Die Enden einer Fläche sind Linien.
7. Eine ebene Fläche ist eine solche, die zu den geraden Linien auf ihr gleichmäßig liegt.
8. Ein ebener Winkel ist die Neigung zweier Linien in einer Ebene gegeneinander, die einander treffen, ohne einander gerade fortzusetzen.
. . .


Der  -  davon abweichende  -  Text auf der Briefmarke stammt von Johannes Campanus von Novara (Giovanni Campani, 1220 oder 1233 - 1296), der 1260 eine vollständige lateinische Ausgabe der Elemente verfasste. Campanus war selbst Mathematiker und nahm sich die Freiheit, mit den Quellen freizügig umzugehen. Grundlage seines Werks war eine arabische Übersetzung der Elemente, die bereits vor ihm ins Lateinische übersetzt worden war und die er nach seinen Vorstellungen bearbeitete. Ein Schreiber in Krakau fertigte 1444 eine Abschrift an, deren erste Zeilen man auf der Briefmarke sieht. Dort steht zu lesen:

Zur besseren Orientierung markieren die senkrechten Striche  |  die Zeilenenden auf der Briefmarke. Punctus est cuius pars | non est. Ein Punkt ist etwas, von dem es keinen Teil gibt.
Linea est longitudo | sine latitudine cuius extre|mitates sunt duo puncta. Eine Linie ist eine Länge ohne Breite, deren Enden zwei Punkte sind.
Bei    hat der Schreiber das Wort brevissima ausgelassen. Linea recta est ab uno | puncto ad alium    extensio in extremitates suas utrumque | eorum recipiens. Eine gerade Linie ist die kürzeste Ausdehnung von einem Punkt zum anderen, die in ihren Enden jeden von ihnen aufnimmt.
Superficies est que habet longitudinem et la|titudinem tantum cuius termini sunt quidem linee. Eine Fläche ist etwas, das nur Länge und Breite hat, dessen Enden Linien sind.
Superfi|cies plana est ab una linea ad aliam extensio in | extremitates suas ambitus recipiens. Eine ebene Fläche ist die Ausdehnung von einer Linie zur anderen, die an ihren Grenzen die Ränder aufnimmt.
Der Text auf der Briefmarke endet mitten im Wort; die Fortführung müsste lauten: -sio est super superficiem applicatioque non directa. Angelus planus | est duarum linearum alternus contactus quarum expan Ein ebener Winkel ist die gegenseitige Berührung zweier Linien, deren Ausbreitung auf einer Fläche und deren Anschluss nicht geradlinig ist.


Diese von Campanus herausgegebene Fassung der Elemente von Euklid war im mittelalterlichen Europa die mit Abstand verbreitetste. Ihre Rolle in der Übersetzungsgeschichte der Elemente und der Wissenschaftsgeschichte allgemein ist bemerkenswert. Im 12. Jahrhundert war die griechische Urfassung der Elemente in Europa verschollen; frühe lateinische Übersetzungen waren nur noch fragmentarisch erhalten. Südspanien war zu dieser Zeit unter arabischer Herrschaft, und zwischen den arabischen und europäischen Gelehrten entwickelte sich ein reger wissenschaftlicher Austausch. Die Araber besaßen vollständige Versionen der Elemente, die sie vor langer Zeit aus dem Griechischen in ihre Sprache übersetzt hatten. So gelangten die Elemente nach fast 1500 Jahren über die arabische Welt und das maurische Spanien durch reisende Mönche nach Mitteleuropa. Dort wurden sie ins Lateinische übersetzt und bearbeitet, bis 1260 Campanus seine Version verfasste, die zum Standardwerk für mehrere Jahrhunderte werden sollte. Sie ist in mittelalterlichem Latein geschrieben, das von unserem Schullatein etwas abweicht ("que" statt "quae" usw.). Die Campanus-Elemente wurden in der Folge immer wieder abgeschrieben. In der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau werden mehrere dieser Manuskripte aufbewahrt, unter anderem das auf der Briefmarke abgebildete von 1444. Es war eines der letzten handgeschriebenen Exemplare der Elemente, denn nur wenige Jahre später erfand Johannes Gutenberg den Buchdruck. Die Campanus-Elemente wurden schon 1482 in Venedig vom Augsburger Erhard Ratdolt gedruckt und gehörten damit zu den ersten gedruckten Büchern überhaupt. Sie fanden schnell in ganz Europa Verbreitung. Etwa um die Zeit, als Kolumbus Amerika erreichte (1492), kaufte Nikolaus Kopernikus als Student in Krakau eines dieser Exemplare der Elemente.


Niemand weiß, wie Euklid ausgesehen hat. Authentische Portraits von ihm sind nicht erhalten. Raffael stellte ihn mit Halbglatze dar, aber dies entsprang seiner Fantasie. Die Malediven zeigen Euklid auf einer Briefmarke mit ganz anderem Aussehen, aber natürlich ebenfalls frei erfunden:

Marke mit Portrait von Euklid

Am linken Rand der Marke steht Principles of Geometry. Auch hier ist Euklid wieder mit Zirkel und einer geometrischen Konstruktion dargestellt.



Stand 2005-02-28
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