Manfred Börgens Mathematik auf Briefmarken # 6 |
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China 1955 Michel 279A Scott 246 |
Tsu Ch'ung Chi (Zu Chong Zhi) (ca. 429 - ca. 500)
Der Herr auf der Briefmarke mit der interessanten Frisur lebte vor über 1500 Jahren in China. Die Wissenschaftshistoriker wissen nicht sehr viel über ihn. Insbesondere ist rätselhaft, wie Tsu seine erstaunliche Approximation der Kreiszahl π berechnet hat. Man kann sie auf der Marke sehen!
Tsu wurde als Mathematiker und Astronom bekannt. Zusammenfassende Darstellungen über sein Leben geben die Universität St. Andrews und R. Williams in [2].
Die Zahl auf der Briefmarke ist in arabischen Ziffern dargestellt, nicht in den altchinesischen Ziffern aus Tsus Epoche. Aber dies ist - mathematisch gesehen - keine Verfälschung, denn in China war das Dezimalsystem schon vor unserer Zeitrechnung gebräuchlich. Zu Zeiten Tsus benutzte man auch schon lange das dezimale Stellenwertsystem, auch für Dezimalbrüche (also für "Nachkommastellen").
Die Übersetzung der mathematisch relevanten chinesischen Schriftzeichen auf der Marke gibt G. Bonte in [1] an; mein Kollege Professor Mann hat noch Ergänzungen beigetragen. "Mathematiker" erstreckt sich über drei Schriftzeichen.
Tsu Ch'ung Chi war fast ein Jahrtausend lang der "Weltrekordhalter" in der Präzision der Darstellung von π. Er hielt diesen Rekord gleich in zwei "Disziplinen", nämlich für dezimale Nachkommastellen
(den Mittelwert der beiden Grenzen sieht man auf der Briefmarke)
und für den Bruch
Wie genau sind diese Näherungen?
Hier ist der richtige Wert, gerundet auf 11 Nachkommastellen:
Der auf der Briefmarke abgedruckte Mittelwert ist also eine korrekte Rundung auf 8 Nachkommastellen.
Wegen 355 / 113 = 3.14159292035... ist der von Tsu angegebene Bruch auf 6 Nachkommastellen korrekt.
Tsu Ch'ung Chi verbesserte damit die Ergebnisse seiner Vorgänger erheblich. Seinem Landsmann Liu Hui, der etwa 200 Jahre vor Tsu lebte, wird die Näherung 3.14159 zugeschrieben; im Mittelmeerraum hatte Ptolemäus um das Jahr 150 die Näherung 3.141666... angegeben. Sehr verbreitet war die Näherung π ≈ 22 / 7 = 3.142857..., die schon von Archimedes um 250 v. Chr. benutzt wurde.
Vermutlich erreichten Tsus Zahlen das Abendland erst viele Jahrhunderte später, denn noch Fibonacci konnte 1220 lediglich die Näherung 3.141818 angeben. Verbessert wurde Tsus Abschätzung erst durch den Inder Mahdava (1400, 11 Nachkommastellen) und Al-Kashi aus Samarkand (1430, 14 Nachkommastellen). Auch deren Ergebnisse blieben wohl zunächst in Europa unbekannt, denn der erste europäische Mathematiker, der genauer als Tsu rechnete, war der Franzose François Viète, der 1579 eine Näherung mit (nur) 9 richtigen Nachkommastellen berechnete. Kurz danach wurde Tsus Bruch 355 / 113 erneut (aber 1100 Jahre später!) durch Adriaan Anthonisz gefunden. Danach gab es rasante Fortschritte: Bis 1596 kannte man 35 Nachkommastellen (Ludolph van Ceulen).
Und heute? Im September 1999 berechnete der Japaner Takahashi Kanada 206.158.430.000 Nachkommastellen mit einem Computer (klar!), und das Wettrennen wird sicherlich noch weitergehen.
Die klassische Methode, die schon Archimedes anwandte, ist die Umfangsberechnung von dem Kreis einbeschriebenen und umschriebenen regelmäßigen n-Ecken, um so eine untere und eine obere Abschätzung für den Kreisumfang zu erhalten. Das Bild zeigt dies für n = 8 .
In moderner Schreibweise ist für einen Kreis mit Radius 1:
Die Sinus- und Tangens-Werte lassen sich für viele n elementar berechnen, was allerdings für große n mühsam wird. Für die Achtecke ergibt sich auf diese Weise:
Archimedes verwendete das 96-Eck, das die folgende Näherung bringt:
Liu Hui, der uns schon als π-Rekordler vor Tsu begegnete, berechnete den Umfang des (regelmäßigen) 3072-Ecks. Al-Kashi nahm für die oben erwähnten 14 Nachkommastellen n = 3 · 228 = 805.306.368. Der Hildesheimer Mathematiker und Ingenieur Ludolph van Ceulen verbrachte die meiste Zeit seines Lebens mit n = 262 = 4.611.686.018.427.387.904 und ereichte damit, wie erwähnt, 35 Nachkommastellen. Nach ihm heißt π auch die Ludolph'sche Zahl.
Man kennt modernere, nicht-geometrische Methoden, um π zu berechnen, etwa mit Reihenentwicklungen oder Kettenbrüchen. Der Inder Madhava (der Tsus Rekord brach) scheint der erste gewesen zu sein, der solche Methoden angewendet hat.
Wie hat es Tsu Ch'ung Chi gemacht? Wir wissen es nicht.
Literatur
[1] | G. Bonte |
Yuan Zhou Shuai Philamath 3/2 (1981), S. 5-6 | |
[2] | R. Williams |
Tsu Ch'ung-Chih Philamath 16/3 (1995), S. 4-6 | |
[3] | J. Arndt, C. Haenel |
π - Algorithmen, Computer, Arithmetik Springer |