Manfred Börgens
Mathematik auf Briefmarken  # 132
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Eratosthenes-Marke


Eratosthenes (276 - 194 v. Chr.)

In "Mathematik auf Briefmarken" sind bereits mehrere Privatmarken vorgestellt worden. Diese Marken können offiziell für das Porto verwendet werden und sollten deshalb in der thematischen Philatelie nicht ignoriert werden. Eratosthenes wurde bislang nicht durch eine Postverwaltung mit einer Briefmarke bedacht, also bietet sich die oben gezeigte sehr schön gestaltete Privatmarke an, um an ihn zu erinnern.  –  In diesem Jahr 2025 gibt es dafür auch einen Anlass: Eratosthenes wurde vor 2300 Jahren geboren. Bei dieser Zeitangabe ist berücksichtigt, dass es in unserer bürgerlichen Zeitrechnung kein Jahr 0 gibt.

Eratosthenes war ein griechischer Gelehrter aus Kyrene im heutigen Libyen. Nach Studien in Athen wurde er Leiter der Bibliothek von Alexandria.

Zwei bedeutende und weithin bekannte Leistungen des Eratosthenes sollen hier vorgestellt werden; die erste sieht man auf der Briefmarke.


Das Sieb des Eratosthenes

Eratosthenes ersann eine Methode, um alle Primzahlen bis zu einer vorgegebenen Größe  N  in aufsteigender Reihenfolge zu bestimmen. Die  n-te Primzahl sei  pn .  Das "Sieb des Eratosthenes" ist eine Auflistung der natürlichen Zahlen von  2  bis  N ,  aus denen sukzessive alle Zahlen gestrichen werden, die einen echten Teiler haben  –  übrig bleiben dann die Primzahlen.

Hier ist der Algorithmus:

(Start)
n = 1   p1 = 2
(Schleife)
–  Streiche alle Vielfachen von  pn  (außer  pn).
–  pn+1  ist die kleinste Zahl > pn ,  die nicht gestrichen wurde.
–  Abbruch bei  pn+1 > N   →   Die gesuchten Primzahlen sind alle nicht-gestrichenen Zahlen in der Liste.
–  n+1  n

Was bedeutet dieses Abbruchkriterium? Ist eine Zahl  N  nicht-prim und hat einen Primfaktor  q > N ,  so hat sie auch einen Primfaktor  p < N  und wurde deshalb bereits gestrichen, wenn der Algorithmus alle Streichungen für  pn  N  abgearbeitet hat  –  die Streichungen der Vielfachen von  q  erübrigen sich somit.

Z.B. müssen für  N = 100  nur die Vielfachen der Primzahlen bis einschließlich  7  gestrichen werden.


Die Bestimmung des Erdumfangs

Eratosthenes hat vermutlich als Erster eine wissenschaftlich fundierte Schätzung des Umfangs der Erde gegeben. Schon zu seiner Zeit wurde die Erde als kugelförmig angenommen. Seine entscheidende Idee ist ein mathematisch-geodätisches Modell, das in Bild 1 dargestellt ist. Wir sehen dort einen Querschnitt durch die Erde; der rechte Kreisrand ist der Meridian, auf dem Alexandria liegt. Über diesem Meridian soll die Mittagssonne stehen, deren Strahlen als parallel angenommen werden. Diese Strahlen fallen in unterschiedlichen Winkeln auf die Orte auf diesem Meridian. Der Winkel  α  in Bild 1 ist die Abweichung der Sonne vom Zenit für Alexandria. Als zweiten Ort wollte Eratosthenes den Schnittpunkt des Meridians mit dem nördlichen Wendekreis wählen; dieser liegt genau südlich von Alexandria. Wählt man nun als Zeitpunkt die Sommersonnenwende, so steht die Sonne über dem Wendekreis mittags im Zenit, und die beiden Orte bilden den Mittelpunktswinkel  α  (Elemente des Euklid, Buch 1, Proposition 29). Nun verhält sich die Entfernung  AW  zwischen Alexandria und dem Wendekreis (dicker Kreisbogen in Bild 1) zum Kreisumfang  U  wie  α  zu   360° .

(1)   AW : U = α : 360°   →   U = AW·360°/α

Erdmessung

Bild 1

Dieses Modell ebnete den weiteren Weg: Eratosthenes musste  α  und  AW  messen und konnte so den Erdumfang  U  angeben. So klug und korrekt das Modell auch ist, die erforderlichen beiden Messungen waren alles andere als einfach.

Beginnen wir mit  α .  Die Sonnenhöhe maß man in der Antike mit einem Gnomon oder einer Skaphe; diese Geräte erlaubten den entsprechenden Winkel mittels einer Schattenlänge abzulesen. Im Folgenden soll "Gnomon" für beide Instrumente stehen. Eratosthenes gab den Winkel nicht in Grad an, sondern als Teil eines Vollkreises  –  bei der Bestimmung von  U  war das der Wert  1/50 .  Statt  360°/α  wie in (1) setzte Eratosthenes also den Faktor  50  ein. Dieser Wert war nicht besonders genau, wie wir noch sehen werden.

AW  bereitete noch größere Probleme. Bild 1 zeigt, dass Eratosthenes davon ausging, dass die Stadt Syene am Nil (das heutige Assuan) genau südlich von Alexandria auf dem nördlichen Wendekreis liegt; in Wirklichkeit liegt Syene deutlich nordöstlich von diesem Punkt. Eratosthenes nahm also statt des eigentlich gewünschten Werts  AW  irrtümlich die Entfernung  AS  Alexandria - Syene; diese hat er wohl nicht selbst vermessen, sondern sich auf die Angaben der ägyptischen Geodäten verlassen:  AS = 5.000 Stadien .  Über die Länge eines Stadions herrscht bis heute Uneinigkeit; weiter unten gehen wir genauer darauf ein. Als Abkürzung dafür wird im Folgenden  st  verwendet.

So kam Eratosthenes auf einen Erdumfang von  UE = 250.000 st .

Der folgende Kasten zeigt eine verbreitete Darstellung dieses Resultats:

Aus zahlreichen Schriften zu Eratosthenes gewinnt man den folgenden Eindruck:

(2)
  •  Eratosthenes hat  –  wahrscheinlich als Pionier  –  ein kluges und überzeugendes mathematisch-geodätisches Modell präsentiert, das die Berechnung des Erdumfangs erlaubt.

  •  Damit kommt er auf  UE = 250.000 st .

  •  Es folgt die Diskussion: "Wie lang ist ein Stadion?". Von dieser Länge hängt ab, wie genau Eratosthenes den tatsächlichen Umfang  U  trifft.

Man nimmt an, dass Eratosthenes sein Ergebnis später auf  UE = 252.000 st  abgeändert hat, das entspricht einer Korrektur von  AS  auf  5.040 st .

In der Literatur wird über diese zusätzlichen  2.000 st  spekuliert. Eine der Überlegungen ([3], [5], [7]) verweist darauf, dass in der griechischen Mathematik Geometrie und Zahlentheorie verflochten waren und ganzzahlige Verhältnisse als besonders befriedigend angesehen wurden (Beispiel: Pythagoräische Tripel).  252.000  hat viel mehr Teiler als  250.000 :

Echte Teiler von  250.000 : 33  (davon  11  unter  100)
Echte Teiler von  252.000 : 142  (davon  38  unter  100 ,  darunter alle bis  10)
      Im Zusammenhang damit steht  5.040 = 7! .

Diese (denkbare) Einbeziehung der Teiler in die Umfangsmessung kann übrigens als eine Verbindung zum Sieb des Eratosthenes gesehen werden.

Die Darstellung im Kasten fordert Kritik heraus. (2) ist oberflächlich und wird Eratosthenes' Leistung nicht gerecht. Man wird sehen, dass die Länge des Stadions von nachrangiger Bedeutung ist. Wir wollen Eratosthenes' Methode nun genauer untersuchen.

Im Folgenden wird  "="  auch bei gerundeten Werten verwendet.

Tatsächlicher Erdumfang  U = 40.030 km

Da man in der Antike von einer kugelförmigen und nicht von einer abgeplatteten Erde ausging, wurde hier der gemittelte Erdumfang eingesetzt. Die Abweichung gegenüber dem Äquatorumfang bzw. dem Umfang über die Pole spielen für das Endergebnis keine wesentliche Rolle.

Alexandria   31°11'40'' N   29°54' O

Syene   24°5'20'' N   32°53'45'' O

Wir wissen nicht genau, wo Eratosthenes sein Gnomon in Alexandria aufgestellt hat und wo in Syene ein Gnomon stand. Aber Abweichungen innerhalb der antiken Stadtgebiete spielen für das Endergebnis keine wesentliche Rolle.

Zielpunkt auf Wendekreis   23°45' N   29°54' O

Die Wendekreise lagen zu Eratosthenes' Zeit etwas näher zu den Polen als heute.

(3)   Alexandria - Wendekreis   AW = 1/48,358 von 40.030 km = 827,78 km

(4)   Alexandria - Syene   AS = 1/47,469 von 40.030 km = 843,29 km
Dem korrekten Modell des Eratosthenes folgten zwei Fehler.

"Koordinatenfehler" Alexandria

Eratosthenes gab  360°/α = 50  an. Nach (3) ist aber  360°/α = 48,358 .

Durch diesen Fehler wird  U  um ca. 3,4 %  überschätzt.

"Koordinatenfehler" Syene

Eratosthenes ging davon aus, dass Syene auf dem nördlichen Wendekreis und genau südlich von Alexandria lag. Er nahm also die Entfernung  AS  nach Syene statt der Entfernung  AW  zum Wendekreis in seine Rechnung auf. Nach (3) und (4) wird dadurch  U  um ca. 1,9 %  überschätzt.

Die beiden Koordinatenfehler zusammen ergeben wegen  1,034·1,019 = 1,053  einen zusammengefassten Fehler (Überschätzung von  U) von ca. 5,3 % .

Der Wendekreis wurde hier mit der Breite  23,75° angegeben. Das ist ein gerundeter Wert. Folgt man exakten Formeln für die Schwankung der Erdachsenneigung, erhält man für Eratosthenes' Zeit Breiten zwischen  23,71° und  23,72°. Dies ändert aber nichts an dem Fehler von ca. 5,3 % .

Wie sind die beiden Koordinatenfehler zu erklären?

Der erste Fehler kommt merkwürdigerweise in der Literatur kaum vor (Ausnahmen sind [3], [4]); der Winkelwert  1/50  wird korrekt übersetzt in  7°12', aber es fehlt dann fast immer der Kommentar, dass Alexandria in Wirklichkeit  7°26'40'' nördlich des (damaligen) Wendekreises liegt (dies führt auf (3);  [4] geht von geringfügig anderen Koordinaten im Stadtgebiet von Alexandria aus und kommt auf  7°28').  –  Eine Erklärung könnte sein, dass der Schatten des Gnomons keine ausreichende Genauigkeit erlaubte. Bei einem  1 m  hohen Stab würde der Unterschied  7°12' versus  7°26'40''  einen Unterschied in der Schattenlänge von ca. 4,2 mm  ausmachen.

Der zweite Fehler liegt, was das Gnomon betrifft, ganz ähnlich. Syene lag  20'20'' nördlich des Wendekreises. Zur Sommersonnenwende warf ein Stab von 1m Höhe einen Schatten von ca. 5,9 mm  (Eratosthenes vermutete dort gar keinen Schatten, aber er war ja wahrscheinlich nicht selbst vor Ort).  –  Man liest auch, dass die Sonne senkrecht in einen Brunnen schien. Dazu lässt sich sagen, dass man die Spiegelung der Sonne im Brunnen auch dann sieht, wenn sie nicht perfekt senkrecht darüber steht.

Hier sollte man noch einmal auf die Kritik zwischen den ersten beiden Kästen eingehen. In der Literatur findet man leider sehr häufig die Überlegung:

Eratosthenes hat  250.000  oder  252.000 st  für den Erdumfang angegeben. Also muss man sich lediglich damit beschäftigen, wie lang ein Stadion ist, um die Genauigkeit von Eratosthenes' UE  zu ermitteln.

Das ist eine sehr krude Sichtweise. Der Wert  250.000  enthält die Faktoren  50 (aus dem Winkel  α) und  5.000 (vermutete Entfernung  AW). Da aber beide mit einem "Koordinatenfehler" behaftet sind, sollte die Länge des Stadions nicht als einziger Faktor für die Diskrepanz zwischen Eratosthenes' UE  und dem tatsächlichen  U  herangezogen werden. [8]

Welche Rolle spielt die Länge eines Stadions?

Wenn wir wüssten, dass die ägyptischen Geodäten die Distanz  AS  zwischen Alexandria und Syene korrekt gemessen haben, dann wäre uns auch die Länge des dabei verwendeten Stadions bekannt, und das Modell des Eratosthenes würde den Erdumfang  U  um ca. 5,3 %  überschätzen; man käme also auf ca. 42.164 km .

Ist der aus der antiken Literatur bekannte Wert von  5.000  bzw. 5.040 st  für  AS  plausibel? Hier kommt die Länge des Stadions ins Spiel. Wir zitieren zwei Wissenschaftler mit weit auseinanderliegenden Ansichten:

E. Gulbekian [1] :  1 st = 166,7 m    AS = 5.058,71 st

Dieser Wert liegt sehr nahe den Werten, die den antiken Angaben entsprechen:

AS = 5.000 st    1 st = 168,66 m
AS = 5.040
 st    1 st = 167,32 m

D. Rawlins [4] :  1 st = 184,8 m    AS = 4.563,24 st

Rawlins' Stadionlänge wurde von vielen Wissenschaftlern anerkannt, aber ist bis heute umstritten.

Was soll man nun glauben? Der Stadion-Wert von Gulbekian ist eine Einzelmeinung, passt aber sehr gut zu den antiken Angaben über die Entfernung  AS .  Der Stadion-Wert von Rawlins genießt verbreitete Anerkennung, würde aber bedeuten, dass  AS  in der Antike um  9,6 %  bzw. 10,4 %  überschätzt wurde. Fehler dieser Art sollen hier "Streckenfehler" heißen. Rawlins' Stadionlänge würde zu einer zusätzlichen deutlichen Überschätzung von  U  führen.

Ein noch extremerer Wert für die Länge eines Stadions wurde von Plinius angegeben [2]:  157,2 m .  Damit würden sich Koordinatenfehler und Streckenfehler fast vollständig kompensieren und so die Fehler verschleiern (vgl. den Wert  166,7 m  im folgenden Kasten; dort wird der Plinius-Wert nicht mit aufgenommen).

Gesamtfehler

Stadion = 168,66  bzw. 167,32 m      AS = 5.000  bzw. 5.040 st      Streckenfehler 0 %                    Gesamtfehler 5,3 %
Diese Berechnung beruht auf der Annahme, dass  AS  von Eratosthenes korrekt angegeben wurde.

Stadion = 166,7 m                    AS = 5.058,71 st               Streckenfehler -1,2  bzw. -0,4 %      Gesamtfehler 4,1  bzw. 4,9 %
Diese Berechnung beruht auf der Länge des Stadions in [1]. Der Gesamtfehler verschleiert, dass der Koordinatenfehler größer ist. Koordinatenfehler und Streckenfehler kompensieren sich also teilweise.

Stadion = 184,8 m                    AS = 4.563,24 st               Streckenfehler 9,6  bzw. 10,4 %       Gesamtfehler 15,4  bzw. 16,3 %
Diese Berechnung beruht auf der Länge des Stadions in [4].

Man erkennt also, dass bei der Berechnung von  UE  durch Eratosthenes zwei ganz unterschiedliche Fehlerarten zum Tragen kommen. Die "Koordinatenfehler" haben mit der Ablesegenauigkeit des Gnomons und mit der schwierigen Bestimmung der Längengrade zu tun. Der "Streckenfehler" aus dem vorigen Kasten betrifft gemessene Entfernungen und verwendete Längenmaße. Die Koordinatenfehler sind objektiv und nicht umstritten (der Fehler bei  α  wird allerdings in der Literatur kaum beachtet), der Distanzfehler ist unsicher und wird immer noch diskutiert.


Quellen

[1]  Gulbekian, Edward:  The origin and value of the stadion unit used by Eratosthenes in the third century B.C.,  Arch. Hist. Exact Sci. 37 (4) (1987),  S. 359 - 363

[2] MacTutor History of Mathematics Archive:  Eratosthenes of Cyrene,  dort weitere Literaturangaben

[3]  Priskin, Gyula:  The Egyptian heritage in the ancient measurements of the earth,  Göttinger Miszellen 208 (2006),  S. 75 - 88

[4]  Rawlins, Dennis:  Eratosthenes' geodest unraveled: Was there a high-accuracy Hellenistic astronomy?,  Isis 73 (2) (1982),  S. 259 - 265

[5]  Rawlins, Dennis:  The Eratosthenes-Strabo Nile map. Is it the earliest surviving instance of spherical cartography? Did it supply the 5000 stades arc for Eratosthenes' experiment? ,  Arch. Hist. Exact Sci. 26 (1982),  S. 211 - 219

[6]  Tupikova, Irina:  Ptolemy's Circumference of the Earth,  Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte,  Preprint 464 (2014)

[7]  Walkup, Newlyn:  Eratosthenes and the Mystery of the Stades  –  Eratosthenes' Correction,  Convergence (2010), MAA Publications

[8]  Walkup, Newlyn:  Eratosthenes and the Mystery of the Stades  –  Conclusions,  Convergence (2010), MAA Publications


Kategorie: Geomathematik


Publiziert 2025-05-26          Stand 2024-10-03


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