Manfred Börgens
Mathematische Probleme  # 32
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Problem des Monats Juli / August 2003

"Unsere Chancenverwertung hätte effektiver sein können," klagte zur Halbzeit der Trainer unseres Gegners beim Meisterschaftsturnier der FH-Fußballmannschaften, "aber glücklicherweise war die der FH Gießen-Friedberg noch schlechter."

Auch in der zweiten Halbzeit verwandelte die gegnerische Mannschaft ihre Chancen besser als unser Team.

Trotzdem haben die Fußballer unserer FH das Spiel gewonnen. Das war weniger verwunderlich als die Bemerkung unseres eigenen Trainers in der anschließenden Pressekonferenz: "Unsere Chancenverwertung war im gesamten Spiel insgesamt besser als die des Gegners."

Hat sich da unser Trainer verrechnet? Oder ist es wirklich möglich, dass die gegnerische Mannschaft in jeder der beiden Halbzeiten die bessere Chancenverwertung zeigt, aber aufs ganze Spiel gerechnet die eigene Mannschaft?

Chancenverwertung: Anzahl erzielter Tore dividiert durch Anzahl der Torchancen.



Lösung



Ja, das ist wirklich möglich. Mit ein wenig Probieren kann man viele Beispiele finden, hier ist eines davon:

FH Gießen-Friedberg - FH Frankfurt 5:4 (1:2)
In der 1. Halbzeit verwandelte unsere FH 1 von 4 Torchancen, der Gegner 2 von 6.
In der 2. Halbzeit verwandelte unsere FH 4 von 7 Torchancen, der Gegner 2 von 3.

Chancenverwertung (gerundet)
1. Halbzeit: 0,25 bzw. 0,33
2. Halbzeit: 0,57 bzw. 0,67
Gesamtes Spiel: 0,4545 bzw. 0,4444

Das Beispiel zeigt, dass man mit der Interpretation von Wahrscheinlichkeiten vorsichtig umgehen muss. Wie kritisch dies sein kann, sollen folgende (fiktive) Schlagzeilen nahelegen, die sich mit der Uni und der FH in Gießen beschäftigen:

Gießener Allgemeine
"Frauen bei Stipendien-Anträgen an Gießener Hochschulen benachteiligt."

Gießener Anzeiger
"Männer bei Stipendien-Anträgen an Gießener Hochschulen benachteiligt."

Dahinter könnte ein Zahlenspiel wie im obigen Fußball-Beispiel stecken. Multipliziert man alle Zahlen mit 30, würden die Verhältnisse wie folgt aussehen:

An der Uni stellten im letzten Semester 120 Männer einen Stipendienantrag, davon waren 30 erfolgreich (25 %); 180 Frauen stellten einen Stipendienantrag, davon waren 60 erfolgreich (ca.33,33 %).

An der FH stellten im letzten Semester 210 Männer einen Stipendienantrag, davon waren 120 erfolgreich (ca. 57,14 %); 90 Frauen stellten einen Stipendienantrag, davon waren 60 erfolgreich (ca. 66,67 %).

An beiden Hochschulen zusammen stellten im letzten Semester 330 Männer einen Stipendienantrag, davon waren 150 erfolgreich (ca. 45,45 %); 270 Frauen stellten einen Stipendienantrag, davon waren 120 erfolgreich (ca. 44,44 %).

Die Allgemeine hat ihre Schlagzeile formuliert, nachdem sie beide Hochschulen zusammengefasst betrachtet hatte. Der Anzeiger ist vom Gegenteil überzeugt, weil seine Schlagzeile für jede der beiden Hochschulen stimmt.

Noch kritischer wird die Sache, wenn beim Vergleichstest zweier Medikamente das Medikament A bessere Erfolge erzielt als das Medikament B, falls man jede an der Untersuchung beteiligte Klinik einzeln betrachtet, aber B bei der Gesamtheit der untersuchten Fälle besser abschneidet als A. Welches Medikament ist nun besser?

Das mag verwirrend sein. Man sollte daraus lernen, dass sich Grundgesamtheiten häufig so geschickt aufteilen lassen, dass Wahrscheinlichkeiten in den Teilmengen ein anderes Bild ergeben als in der Gesamtheit. Jede Interpretation solcher Zahlen muss deshalb genau angeben, auf welche Grundmengen sie sich bezieht.

Bei genauerem Hinschauen ist dieses Phänomen nicht so erstaunlich und gut erklärbar.

Wir schauen uns noch einmal die Chancenverteilung der FH Gießen-Friedberg an. Wie werden hier die Wahrscheinlichkeiten 1/4 (= 0,25) und 4/7 (ca. = 0,57) "zusammengefasst"? Nun, das Ergebnis von 5/11 (ca. = 0,4545) lässt sich nicht nur durch Betrachtung des gesamten Spiels mit 5 Toren und 11 Torchancen erklären, sondern auch als ein gewichtetes Mittel von 1/4 und 4/7. Ein einfacher arithmetischer Mittelwert von 1/4 und 4/7 ist hier nicht sinnvoll, da die Grundmengen von 4 bzw. 7 Torchancen verschieden groß sind (so wie es auch keinen Sinn ergäbe, den Abiturientenanteil in Deutschland als arithmetisches Mittel der beiden Abiturientenanteile in den alten und den neuen Bundesländern zu berechnen). Das gewichtete Mittel verwendet die Anteile 4/11 und 7/11 an den Torchancen im gesamten Spiel:

1/4 · 4/11 + 4/7 · 7/11 = 5/11

Dass nun das gewichtete Mittel von 1/4 und 4/7 größer ausfällt als das von 1/3 und 2/3, liegt einfach daran, dass für die ersten beiden Werte (FH Gießen-Friedberg) der Gewichtungsfaktor 7/11 beim größeren Wert (4/7) relativ groß ausfällt, dagegen ist es für die beiden letzten Werte (FH Frankfurt) gerade umgekehrt, hier hat der kleinere Wert (1/3) die größere Gewichtung von 6/9 (siehe Kasten).

Uebersicht der gewichteten Mittel

Dieses Phänomen lässt sich bei wissenschaftlichen Experimenten auch manipulativ einsetzen. Wer dazu mehr erfahren möchte, kann viele Beispiele unter dem Stichwort Simpsons Paradoxon nachlesen, nach Edward H. Simpson, der 1951 einen Artikel dazu veröffentlichte (allerdings hatte George Udny Yule das Paradoxon schon 1903 beschrieben).



Stand 2006-07-04
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