Manfred Börgens
Mathematische Probleme  # 26
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Willkommen im Primzahljahr 2003.

Problem des Monats Januar 2003

          Die Lösung steht im unteren Teil der Seite.

In diesem Monat ist ausnahmsweise keine mathematische Aufgabe zu lösen, sondern Sie werden in einen entlegenen Winkel der Mathematikgeschichte geführt. Es soll ein Mathematiker gefunden werden, zu dem biographische Hinweise gegeben werden. Es wird nicht erwartet, dass die Leser dieser Seite sofort wissen, um wen es sich handelt - eher ist zu vermuten, dass sie von ihm noch nie gehört haben. Aber es soll ja auch nicht zu einfach sein, und ich hoffe, dass die Recherche in Büchern oder im Internet Spaß macht.

Mit sieben Jahren kam er auf die Insel, und er verließ sie bis zu seinem Tode nicht mehr. Dabei war das feste Land ganz nah und mühelos zu erreichen, aber er selbst war wegen einer schweren Behinderung kaum in der Lage zu reisen. Seine Mutter H. hatte seine Begabung erkannt und wusste um den einzigen Platz, an dem ihr krankes Kind ein erfülltes Leben führen konnte: In einem Kloster. Lesen, Schreiben und die Pflege der Wissenschaften waren zu dieser Zeit in Europa fast allein Sache der Mönche.

Von seinem Vater W. und dem Benediktinerorden wurde über den Jungen wie folgt verfügt - gefragt wurde er nicht: Die Mönche waren verpflichtet, für seinen Unterhalt und die Pflege, die durch seine Behinderung nötig wurde, Zeit seines Lebens zu sorgen, und sie sollten ihm eine wissenschaftliche Ausbildung vermitteln, die seinen Fähigkeiten entsprach. Im Gegenzug erhielt das Kloster, das ihm zur zweiten Heimat werden sollte, eine stattliche Schenkung (wahrscheinlich Ländereien, die hohe Erträge einbrachten). Außerdem wurde der Junge enterbt, nicht nur materiell, sondern auch die Nachfolge im Adelstitel seiner Familie betreffend.

Seine Ausbildung litt unter den quälenden Beschränkungen, die sein ganzes Leben prägten. So war er kaum in der Lage, einen Griffel oder eine Feder zu halten. Seine Sprache war schwerfällig und nur den ihm vertrauten Ordensbrüdern verständlich. Aber diese bewiesen große Geduld und erkannten, welch ein heller Verstand in seinem geplagten Körper steckte. Sie halfen ihm, seine Hände allmählich immer besser zu gebrauchen.

Er wurde einer der bekanntesten und produktivsten Gelehrten seiner Zeit. Noch heute kennt man von ihm komponierte Kirchenlieder. Sein Hauptwerk ist eine Weltchronik, die das erste Jahrtausend nach Christus beschreibt. Der Weg dorthin führte über die Mathematik.

Seine wissenschaftlichen Studien umfassten das mathematische und astronomische Wissen seiner Zeit. Darauf bauen seine Lehrbücher (in lateinischer Sprache) auf, z.B. über das Rechnen mit dem Abakus oder zur Bestimmung von Sonnen- und Mondfinsternissen. Die Finsternisberechnung stand dabei in engem Zusammenhang mit einem seiner Hauptanliegen, nämlich der präzisen Kalenderrechnung. Chroniken der damaligen Zeit waren fehler- und lückenhaft, oft aus politischen Gründen gefälscht, vor allem aber gebrauchten sie unterschiedliche Jahresangaben. In seinem Werk "Computus" legte der junge Mönch die mathematischen Grundlagen für eine exakte Datierung der Ereignisse in der ihm bekannten Welt seit Christi Geburt.

Seine mathematischen Schriften waren die theoretische Grundlage für seine Weltchronik. Sein Interesse galt aber auch der praktischen Zeitmessung. Mit Hilfe seiner Ordensbrüder baute er Uhren, Quadranten und Astrolabien. Die Kenntnis, wie man ein Astrolabium herstellt und mit ihm die Position der Gestirne vermisst, war in seinem Kloster verloren gegangen. Er unterwies die Brüder in den mathematischen Grundlagen dieses Gerätes und gab die Anleitung zur Fertigung. Auf diese Weise trug er dazu bei, dass alte wissenschaftliche Traditionen aus dem arabischen Raum für Mitteleuropa in Büchern und im Handwerk wieder verfügbar wurden. Er baute auch eine Taschensonnenuhr für den Breitengrad, auf dem seine Insel liegt.

Seine Haltung zur Wissenschaft mutet modern an und wenig religiös: Ihre Grundpfeiler waren für ihn  der einmütige Spruch aller  und  die unüberwindliche Wahrheit der Natur.

Er ist nur 41 Jahre alt geworden. Erst sein Leichnam verließ wieder die Insel und wurde in seinem Heimatort bestattet.

Wer war dieser Mann?



Lösung



Es war Hermann der Lahme (1013-1054) aus Altshausen in Oberschwaben. Er lebte ab seinem siebten Lebensjahr auf der Insel Reichenau im Bodensee (Untersee). Seine Eltern waren Graf Wolfrat II. von Altshausen-Veringen und Gräfin Hiltrud. Sie vertrauten ihn dem Benediktinerkloster in Mittelzell auf der Reichenau an.

Die Insel Reichenau gehört zur Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. Von Hermanns Kloster lassen sich noch das Marienmünster und wenige Reste der Wohnanlage besichtigen.

Obwohl Hermann wegen einer schweren Lähmung ständig auf die Hilfe seiner Ordensbrüder angewiesen war und mit einem Tragstuhl bewegt wurde, war er ein unermüdlicher Lehrer, Erfinder, Autor und Komponist. Gegen Ende seines Lebens wurde er Abt seines Klosters.

Welche Hinweise gibt es im Monatsproblem, die zu Hermann führen? Am einfachsten ist es, ein paar Stichworte in einem Internet-Suchprogramm auszuprobieren. "Computus" und "Weltchronik" reichen schon aus, um Hermann zu finden. Auch die Stichwortkombination "Benediktiner" und "Astrolabium" führt zum Erfolg.


Hermann der Lahme:      Biographie (deutsch)       Biographie (englisch)


Literatur:

Arno Borst: Mönche am Bodensee, Sigmaringen 1978

Arno Borst: Wie kam die Arabische Sternkunde ins Kloster Reichenau? Konstanz 1988



Stand 2003-01-24
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