Manfred Börgens
Mathematische Probleme  # 62
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Jahr der Mathematik 2008

Die Bundesministerin für Bildung und Forschung hat das Wissenschaftsjahr 2008 zum Jahr der Mathematik ausgerufen. Diese Initiative will die Faszination der Mathematik einer größeren Öffentlichkeit vermitteln, insbesondere jungen Menschen.

Diese Seite und weitere Seiten (Mathematische Probleme #61-65 ,  Mathematik auf Briefmarken #62-65) wenden sich im Sinne des  Jahrs der Mathematik  besonders an Schülerinnen und Schüler, die sich für Mathematik und ihre Geschichte interessieren.

Jahr der Mathematik in Wikipedia

Ein Mathematicus erforscht den Orient.

Zum zweiten Mal wird auf dieser Seite ein Mathematiker gesucht (der erste in Problem # 26). Es handelt sich nicht um einen berühmten Wissenschaftler (das wäre zu einfach), sondern um einen eher unter Orientalisten bekannten Mann, dem sein Mathematikstudium ein unerwartet abenteuerliches Leben bescherte. Als "Mathematicus und Astronomus" in dänischen Diensten ging er auf eine lange und gefährliche Reise, die ihn bis nach Indien führte, und erwies sich dabei als ein vielseitiger Forscher, dessen Reiseberichte den Gang von Wissenschaft und Politik beeinflussten.

In der nun folgenden kurzen Beschreibung seines Lebens wollen wir ihn also Mathematicus nennen. Er wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Sohn eines norddeutschen Bauern geboren. Erst mit 22 Jahren reifte in ihm der Gedanke, ein Studium aufzunehmen, um Geodät zu werden und dann als Landmesser in das Ingenieurcorps des Kurfürstentums Hannover einzutreten. Dazu kam es nie, denn schon während seines Mathematikstudiums in Göttingen (u.a. bei Abraham Gotthelf Kästner und Tobias Mayer, dem Verfasser des Meisterwerks Mathematischer Atlas) bot man ihm an, an einer Forschungsreise nach Ägypten und Vorderasien teilzunehmen. Die Idee zu dieser ersten rein wissenschaftlichen Expedition in den Orient kam aus den Reihen der Göttinger Gelehrten, die Finanzierung übernahm der dänische König.

Unser Mathematicus hatte bis zu diesem überraschenden Angebot bereits drei Semester Mathematik studiert, mit besonderem Schwerpunkt auf der Geometrie, die er für seine geodätischen und kartographischen Interessen benötigte. Bis zum Antritt der Reise schloss er sein Studium in weiteren fünf Semestern ab. Tobias Mayer führte ihn in dieser Zeit auch in die Astronomie ein, wohl vor allem geleitet von dem Bestreben, dass der Mathematicus die Tauglichkeit der Mayer'schen Mondtabellen für das damals aktuelle Problem der Längengradbestimmung nachweisen sollte (siehe Kasten Die Bestimmung der Längengrade).

Die Reisegruppe, die von Kopenhagen mit einem Segelschiff zu ihrer ersten Etappe in die Türkei aufbrach, bestand aus einem Orientalisten, einem Botaniker, einem Arzt, einem Maler, einem Diener und eben dem Mathematicus, der während der Expedition Aufgaben in Mathematik, Geodäsie, Kartographie und Astronomie sowie das Amt des Kassenwarts übernahm. Im Auftrag des dänischen Königs sollten die Forscher vor allem die arabische Halbinsel erkunden, um in diesem weitgehend unbekannten Gebiet Erkenntnisse für Geographie, Naturkunde, Sprachwissenschaft und die Erklärung der Bibel zu gewinnen.

Nach dem Verlassen von Konstantinopel segelten die sechs nach Alexandria. Von dort ging es immer weiter nach Süden: Nach Kairo, zu den Pyramiden, auf die Sinai-Halbinsel, nach Suez, über das Rote Meer bis in den Jemen. Überall berechnete der Mathematicus die geographischen Koordinaten, zeichnete präzise Land- und Seekarten, vermaß die Pyramiden und andere Bauwerke.

Die Bestimmung der Längengrade

1714 setzte das britische Parlament 20.000 Pfund  -  den "Longitude Prize"  -  für die Entwicklung einer seetauglichen Methode der Längengradmessung aus. Es wurde das "Board of Longitude" gegründet, das über die eingehenden Vorschläge entscheiden sollte.

Navigationssatelliten, die uns jederzeit unsere Position auf der Erde übermitteln können, gibt es erst seit wenigen Jahren. Bis dahin war die Orientierung auf See wesentlich schwieriger. Die Bestimmung des Breitengrads ist dabei relativ unproblematisch, schon seit der Antike konnte man diesen durch die Höhe des Polarsterns oder die Mittagshöhe der Sonne ermitteln. Für die Bestimmung des Längengrads dagegen gab es lange Zeit gar keine Lösung. Die Aussetzung des Longitude Prize durch das britische Parlament folgte einer Reihe verheerender Schiffsunglücke, die sich wegen Fehlkalkulationen des Längengrads durch die Kapitäne ereignet hatten.

Die Messung des Längengrads eines beliebigen Ortes auf der Erde ist deshalb schwierig, weil für alle Orte auf einem bestimmten Breitengrad "die Welt gleich aussieht". Das bedeutet z.B. für Athen und San Francisco, die beide knapp südlich des 38. nördlichen Breitengrads liegen (aber 146 Längengrade voneinander entfernt), dass der tägliche und jährliche Lauf von Sonne und Sternen an beiden Orten identisch ist.

Es gibt nur eine Lösung für dieses Problem  -  sieht man von modernen Navigationssystemen ab  - , und diese erscheint auf den ersten Blick ganz einfach:  Man braucht eine Uhr.  Nimmt man etwa eine Uhr mit auf eine Reise, die die Londoner Ortszeit anzeigt (und während der ganzen Reise beibehält), so ergibt sich der Längengrad des jeweiligen Aufenthaltsorts durch den Vergleich mit der dortigen Ortszeit: Jeweils 15 Längengrade entsprechen dann einer Stunde Unterschied zwischen der Ortszeit und der Zeit auf der in London gestellten Uhr.

Aber zu Beginn des 18. Jahrhunderts gab es noch keine seetauglichen Uhren. Die Astronomen hatten deshalb eine gute Idee  -  und hofften damit auch den Longitude Prize zu erringen: Sie wollten den Himmel als Uhr verwenden. Zwar ist der Lauf der Fixsterne über lange Zeiträume im wesentlichen gleich, aber der Mond und die Planeten ziehen auf veränderlichen Bahnen über den Nachthimmel. Diese Idee verfolgte auch der Göttinger Mathematiker und Astronom Tobias Mayer, der den Abstand des Mondes zu bestimmten markanten Sternen für zukünftige Zeitpunkte in seinen "Mondtabellen" berechnete. Er stützte sich dabei u.a. auf die von Leonhard Euler erstellten Gleichungen für die Mondbahn. Die Leistung von Euler und Mayer ist deshalb sehr beachtlich, weil die Mondbahn zahlreichen Störungen unterliegt, die mathematisch nur schwer zu fassen waren. Mayers Mondtabellen konnten als Uhr dienen, die überall auf der Erde die gleiche Zeit anzeigte. Die Mondposition wich um maximal 5'' (Bogensekunden) von seinen Tabellen ab; damit ließ sich dann der Längengrad mit einer Genauigkeit von 30' (Bogenminuten) berechnen, was z.B. auf dem Breitengrad von London einer maximalen Abweichung von etwa 30 km entspricht.

An dieser Stelle kommt Mayers Student, unser Mathematicus, ins Spiel. Er führte auf seiner Orientreise das beste verfügbare Instrument für die Winkelmessung am Himmel mit sich, und natürlich die Mayer'schen Mondtabellen. Schon aus Marseille schrieb der Mathematicus an Mayer, dass die Längengradmessungen mit den Mondtabellen mit großem Erfolg durchgeführt werden konnten. Diese Mitteilung erreichte Tobias Mayer kurz vor seinem Tod und war die erste empirische Bestätigung seiner Methode, von der er erfuhr. (Was er nicht wissen konnte: Auch die britische Admiralität hatte die Tabellen überprüft und war von deren Präzision beeindruckt.) Der Mathematicus bestimmte auf diese Weise im Verlauf der Expedition die geographischen Koordinaten weiterer Orte und erstellte damit auch seine Karten.

Diese astronomische Längengradbestimmung ist auf hoher See nur unter Schwierigkeiten durchzuführen. Dennoch wurde diese Methode eine Zeitlang angewandt, und Tobias Mayer war deshalb ein Anwärter auf den Longitude Prize. Nach seinem frühen Tod reiste seine Witwe nach London, ihr wurden aber nur 3000 Pfund zugesprochen (entsprach immerhin heutigen 1,3 Mio. Euro). Euler erhielt für seinen Beitrag zur Problemlösung 300 Pfund.  -  In Konkurrenz zu den astronomischen Methoden stand die Entwicklung seetauglicher Uhren, die etwa gleichzeitig John Harrison gelang, der schließlich auch den Longitude Prize erhielt, wohl zu Recht, wenn man die einfache Ablesung einer Uhr mit komplizierten astronomischen Beobachtungen und Berechnungen vergleicht.


Zweieinhalb Jahre nach der Abreise aus Europa starb der Orientalist an Malaria, und innerhalb des nächsten halben Jahres starben alle weiteren Teilnehmer der Expedition mit Ausnahme des Mathematicus. Er erkrankte ebenfalls schwer, erholte sich aber von der Malaria und kehrte (viel später) als einziger Überlebender nach Europa zurück. Im Alleingang führte er die Expedition fort und übernahm die wissenschaftlichen Aufgaben der anderen Forscher, soweit es ihm möglich war. Seine Reise führte ihn nach Indien, in den persischen Golf und weiter in die Ruinenstadt Persepolis, wo er mit seinen exakten Aufzeichnungen der Keilschrift die Grundlage der späteren Entschlüsselung dieser Schrift legte. Er besuchte Babylon, Bagdad, Aleppo, Zypern, Jerusalem und Damaskus und brachte eine große Fülle wissenschaftlicher Aufzeichnungen zurück nach Europa. Der Heimweg führte über Land: Konstantinopel, Bukarest, Lemberg, Warschau, Göttingen, Kopenhagen. Knapp sieben Jahre nach der Abreise war die Expedition beendet.

Der Mathematicus blieb noch zehn Jahre im dänischen Staats- und Militärdienst und schrieb mehrere Werke über seine große Reise. Die prachtvollen Folianten mit Kupferstichen und Karten kann man heute für viel Geld antiquarisch erwerben. Als Mathematiker hat er danach nicht mehr gearbeitet. Er wechselte in den Zivildienst und wurde Justizrat in Dithmarschen.

Die wissenschaftliche Bedeutung der Vermessung der geographischen Koordinaten mit Hilfe der neuen astronomischen Methoden wurde bereits beschrieben (siehe Kasten Die Bestimmung der Längengrade). Auf politischer Ebene wurden die exakten Karten des Mathematicus vor allem von den Briten und Franzosen genutzt. Seine Karten des Roten Meeres und des Jemen blieben lange Zeit Standardwerke. Mit ihrer Hilfe fanden britische Schiffe den Seeweg von Kalkutta nach Suez; die britische Post entschied sich, die Post von und nach Indien über Suez statt um Afrika herum zu befördern. Am Ende des 18. Jahrhunderts dienten die Karten Napoleon bei seiner Besetzung Ägyptens.

Wer war der Mathematicus?


Lösung


Kategorie: Geomathematik


Publiziert 2008-02-27          Stand 2007-09-18


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